In Syrien bringen Not, Verfolgung und unvorstellbare Grausamkeit originelle Formen des Widerstandes hervor. Die lebensgefährlichen Bedingungen, unter denen syrische Aktivisten arbeiten, haben sie erfinderisch, selbstbewusst und zäh gemacht.
Aktionen wirken über das Internet
Ihre wichtigste Waffe ist die Kamera, meist ein Smartphone. Denn nur was gefilmt wurde, fand wirklich statt. Aktionen in feindlichem Gebiet sind zeitlich und örtlich so begrenzt, dass sie ihre Wirkung erst über das Internet entfalten. Jedes Graffiti, jedes Flugblatt, jede zweiminütige Mini-Demo wird festgehalten und über soziale Netzwerke bekannt gemacht. «Wir sind überall», lautet die Botschaft, «auch 100 Meter vom Haus des Präsidenten entfernt».
Neben der klassischen Revolutions-Kunst in Form von Liedern, Parolen, Plakaten und Karikaturen lassen sich syrische Aktivisten einiges einfallen. In Aleppo benennen sie nachts Strassen um, indem sie Schilder mit den Namen ihrer Märtyrer überkleben. In Damaskus färben sie Brunnenwasser rot ein, um an das vergossene Blut zu erinnern. Aus versteckten Lautsprechern lassen sie Revolutionslieder in öffentlichen Gebäuden erklingen oder Tausende Tischtennisbälle mit der Aufschrift «Freiheit» und «Verschwinde» durch die Strassen nahe des Präsidentenpalastes hüpfen.
Als Geldscheine getarnte Zettel erinnern an Gefangene
Die letzte grössere Aktion fand Anfang Januar 2015 statt: In den Strassen der Hauptstadt liegen als Geldscheine getarnte Zettel, die an die Gefangenen des Regimes erinnern. Passanten bücken sich nach einem zusammengefalteten 500-Lira-Schein und sehen dann die Botschaft auf der Rückseite «Ist dir bewusst, dass durchschnittlich zehn Menschen pro Tag in den Gefängnissen Assads sterben, ohne dass jemand von ihnen erfährt?»
Natürlich bringen solche Aktionen keinen Regimewechsel. Aber sie regen zum Nachdenken an, schaffen ein kritisches Bewusstsein und zeigen, dass gewaltfreier Widerstand auch im Krieg wirksam ist.
Assad versucht Protest zu militarisieren
Für das Regime sind die Kameras der Aktivisten die gefährlichste Waffe. Denn ziviles Aufbegehren ist das, wovor Assad und seine Getreuen sich am meisten fürchten. Deshalb tun sie alles, um den Aufstand militärisch und radikal wirken zu lassen. Seit Ausbruch der ersten friedlichen Proteste im März 2011 bekämpft Assad vor allem die gemässigten und zivilen Kräfte – Demonstranten, Aktivisten, Bürgerjournalisten, Ärzte, Apotheker, Studierende.
Nach wie vor hat jeder Freitag in Syrien ein Motto, unter dem demonstriert wird. Mal sind es Dutzende, mal Hunderte, die gegen das Regime oder den IS auf die Strasse gehen. Diese Proteste sind zahlenmässig unbedeutend, aber sie zeigen, dass vielerorts in Syrien politisches Bewusstsein und kritisches Denken Wurzeln geschlagen haben.
Spuren des Protests in der Provinz
Das macht Hoffnung. Denn wer angesichts von Fassbomben, systematischem Aushungern und willkürlich herrschenden Gotteskriegern über Menschenrechte debattiert, Kriegsverbrechen dokumentiert, Schulunterricht improvisiert und Seminare zur Traumabewältigung organisiert, lässt sich auch in Friedenszeiten nicht mehr bevormunden.
Da Syriens Revolution von Anfang an eine dezentrale, föderale Bewegung war, hat der zivile Widerstand vor allem in der Provinz und in den Randbezirken der grossen Städte Spuren hinterlassen. Dort sind Keimzellen der Demokratie entstanden – viele kleine, örtlich begrenzte Initiativen, die zwar nicht das Regime in Damaskus stürzen können, dafür aber den Boden für eine (hoffentlich irgendwann) pluralistische Zukunft des Landes bereiten.