Worum geht es? Diesen Dienstag sind die Memoiren von Virginia Giuffre – «Nobody’s Girl: A Memoir of Surviving Abuse and Fighting for Justice» erschienen. Ein halbes Jahr nach ihrem Tod liegt ihr Bericht vor: über Jeffrey Epstein, Ghislaine Maxwell und ein System, das junge Frauen zu Ware machte. Giuffre war die zentrale Zeugin. Ihr Buch bringt nun auch Prinz Andrew erneut in Bedrängnis.
Wer ist Virginia Roberts Giuffre? Virginia Giuffre war die Erste, die mit vollem Namen gegen Jeffrey Epsteins Netzwerk – ihn, Ghislaine Maxwell und weitere einflussreiche Männer – aussagte. Ihre Entschlossenheit brachte andere Opfer zum Reden – und machte aus einem anfänglichen Gerücht über die Reichen einen Fall für die Weltöffentlichkeit. Die Klagen gegen Epstein, Ghislaine Maxwell, Prinz Andrew, den US-Anwalt Alan Dershowitz und den Modelagenten Jean-Luc Brunel zwangen ein ganzes Machtgefüge ins Rampenlicht.
Mit 16 geriet Giuffre in die Welt Epsteins: als Masseurin eingestellt, als Teenager ausgebeutet. Sie wollte lernen, arbeiten, ein normales Leben beginnen – und landete im Zentrum der Perversion der Mächtigen. Zwei Jahrzehnte kämpfte sie juristisch und öffentlich gegen die Täter und deren Komplizen. Am 25. April 2025 nahm sich Giuffre, 41 Jahre alt, auf ihrem Bauernhof in Australien das Leben.
Worum geht es in ihrem Buch? Giuffres posthum erschienenes Memoir ist simpel und in vier Teile aufgebaut: «Daughter», «Prisoner», «Survivor», «Warrior» («Tochter», «Gefangene», «Überlebende», «Kriegerin»). Es erzählt von einer Kindheit voller Verrat, von den Mechanismen sexueller Ausbeutung und vom langen Versuch, das eigene Leben zurückzuerobern. Sie erinnert sich an den Sommer 2000, im Spa des Trump-Clubs Mar-a-Lago, wo sie Ghislaine Maxwell begegnete – der Frau, die sie Jeffrey Epstein zuführte. Über drei Jahre, schreibt Giuffre, sei sie Teil eines Systems gewesen, das junge Frauen an reiche Männer vermittelte. Ihr Buch liest sich wie ein letzter Versuch, das eigene Leben zu sortieren – zwischen Albtraum und Zerfall.
Was ist neu? Die Perspektive. Kein Gericht, kein Medium, kein Anwalt spricht hier – sondern eine Frau, die Unfassbares erlitten hat. Als Kind, als Teenager, als Frau. Ihr Ton ist nicht anklagend, sondern müde. Die NZZ nennt es ein «erschütterndes Zeugnis», Watson ein «todtrauriges Enthüllungsbuch». Man liest es, als würde da jemand gegen das eigene Verschwinden anschreiben. Ihr Ton ist klar, fast bürokratisch, und gerade darin liegt die Wucht: Kein Pathos, keine Pose, nur der Versuch, Kontrolle über eine Geschichte zu gewinnen, in der stets andere die Macht hatten. Der Familienfreund, der Vater, Epstein und seine Männer.
Wie ordnet sich das Buch in den Epstein-Fall ein? Giuffres Memoiren sind das persönliche Protokoll eines globalen Machtverfalls. Sie beschreibt, wie Ghislaine Maxwell sie rekrutierte – angeblich für eine Massageausbildung, tatsächlich für den Missbrauch. Dreimal, schreibt sie, sei sie zu Sex mit Prinz Andrew gezwungen worden. Die Details sind minutiös, entwaffnend, kaum zu ertragen. Während Giuffre tot ist, lebt Andrew weiter in der Royal Lodge bei Windsor – die Titel abgelegt, das Privileg behalten. Ein Mann, den die Welt gesehen hat und doch nicht sieht. Ihr Buch legt offen, was den Fall überhaupt möglich machte: ein System, das Macht schützt und Wegsehen belohnt. Epsteins Welt war kein Geheimnis – zu viele wussten, zu wenige handelten. Schuld war individuell, aber vor allem: organisiert.
Was erzählt das Buch über Macht? «Prinz Andrew glaubte, Sex mit mir zu haben, sei sein Geburtsrecht.» Der Satz fasst das Thema ihres Buchs zusammen: Macht, die sich selbst für selbstverständlich hält. Giuffres Geschichte zeigt, wie Nähe zu Reichtum und Einfluss zur Tarnung für Gewalt werden kann – wie Beziehungen, Geld und Ansehen ein Netz spinnen, das Täter schützt und Opfer zum Schweigen bringt. Der Schweizer Journalist Constantin Seibt schreibt in der «Republik», Epsteins und Maxwells Schamlosigkeit sei ihre Waffe gewesen – und sie verband Männer wie Epstein, Maxwell und Andrew: Ihre Rücksichtslosigkeit war so vollkommen, dass andere schlicht keinen Umgang damit fanden.
Was bleibt nach der Lektüre? Giuffre wagt sogar das Ungeheuerliche: Sie versucht, Jeffrey Epstein zu begreifen – ohne ihn zu entlasten. Und sie zeigt, wie Ghislaine Maxwell sie mit Zuwendung bricht, wie Fürsorge zur Dressur wird. Doch sie lernt neu zu leben, versucht, Normalität zu finden. Sie entkommt, heiratet, bekommt drei Kinder, sucht ein Leben jenseits der Geschichte, die sie nicht loslässt. Bis zum Schluss.
Virginia Giuffres Buch endet trotz allem mit Hoffnung. Mit der Vorstellung einer Welt, in der Opfer Hilfe finden und Gerechtigkeit möglich wird. Sie hat eine Stiftung für Missbrauchsopfer gegründet – ihr Versuch, das System zu durchbrechen, das sie selbst zerstörte. Vielleicht ist das ihr letzter, stiller Triumph: dass sie, trotz allem, an Veränderung glaubte.