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Mehrsprachigkeit in der Schweiz nimmt zu
Aus Rendez-vous vom 25.01.2021. Bild: Getty
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Mundart im Wandel So macht das Hochdeutsch im Alltag Schule

Was passiert da auf dem Pausenplatz? Früher wurde man für den falschen Dialekt gehänselt. Heute beschleicht einen das gute Gefühl: Selbst für echtes Hochdeutsch gibt es weder Häme noch Haue. Sprachunterschiede, so scheint es, spielen in der Schule eine kleinere Rolle als früher.

Dieses Nebeneinander ist nett, sagt die Mundartforscherin Helen Christen. Aber es könnte das Verhältnis zwischen dem Hochdeutschen und den Dialekten in der Deutschschweiz nachhaltig verändern.

Helen Christen

Helen Christen

Professorin für Germanistische Linguistik

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Helen Christen ist Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg. Zu ihren vielfältigen Forschungsgebieten gehören auch aktuelle Veränderungen in der Schweizer Mundart.

SRF: Konnten Sie im Kindergarten so sprechen, wie Ihnen der Schnabel gewachsen war?

Helen Christen: Einen Kindergarten gab es bei uns damals nicht. Aber in meinem Dorf sprachen ohnehin alle den gleichen Dialekt. Wie man sprach, war also kein Thema.

Ein Arbeitskollege erinnert sich aus Kindergartenzeiten vor allem an den Schock, dass die neuen «Gspänli» «Milch» tranken, während er eine «Möuch» schlürfte. Er passte sich sofort an.

Dieser Moment ist typisch für jede Sprachbiographie. Im Elternhaus wird eine bestimmte Sprache gesprochen. Erst im Kontakt mit anderen Kindern merkt man: Die tönen ja ganz anders.

Im Falle Ihres Kollegen ist das bewusst passiert. Die meisten Kinder fangen relativ unbewusst damit an, sich an die Norm des örtlichen Dialekts auszurichten.

Meine Buben, die als Kinder von St. Galler Eltern in Zürich aufwachsen, tönen auch im Gespräch mit ihren Zürcher Freunden wie Walter Roderer. Was haben wir bloss falsch gemacht?

Ich beobachte das auch in meiner Nachbarschaft. Da gibt es Kinder, die nicht mehr den lokalen Dialekt sprechen, sondern eher das beibehalten, was sie von zuhause mitbringen. Es gibt offenbar keinen Druck mehr, sich an die herrschende Ortsnorm anzupassen.

Wir sind es uns einfach gewohnt, dass wir nicht alle genau gleich reden.

Weil sich die Jungen mehr Vielfalt gewohnt sind?

Mobilität und die Migration innerhalb der Schweiz spielen sicher eine Rolle. Deshalb haben wir grundsätzlich mehr Variation. Wir sind es uns einfach gewohnt, dass wir nicht alle genau gleich reden. Daraus entwickelt sich offenbar eine gewisse Toleranz.

Warum passen wir uns sprachlich überhaupt an?

Die Frage ist immer: Wer passt sich an wen an? Jemand hat es offenbar nicht nötig, sich anzupassen – ein anderer aber schon. Das hängt immer auch von der sozialpsychologischen Situation ab.

Es spielen auch gesellschaftliche Verhältnisse eine Rolle. Es geht immer um Mehrheits- und Minderheits- sowie um Machtverhältnisse, die solche Prozesse steuern.

Meine Jungs gehen mit dem Nachwuchs eingewanderter Deutscher zur Schule. Von diesen Kindern sprechen einige kein Wort Schweizerdeutsch, obwohl sie hier zur Welt kamen. Wie erklären Sie uns das?

Das ist hochinteressant. Weil sich die Frage stellt: Haben wir in der Schweiz ein Nebeneinander verschiedener Dialekte und zusätzlich des Hochdeutschen? Oder kippt da etwas?

Fangen also Schweizer Kinder an, mit deutschen Kindern hochdeutsch zu sprechen? Sollte das der Fall sein, würde sich die Sprachsituation erheblich zu verändern beginnen.

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Weil das Hochdeutsche im Alltag mehr Raum einnimmt.

Die Frage ist, ob das Hochdeutsche in der Deutschschweiz einen anderen Stellenwert erhält. Man hat an den Hochschulen propagiert, Lehrpersonen sollten mit den Kindern in der Schule Hochdeutsch sprechen – nicht mehr nur im Unterricht, sondern auf dem Pausenplatz, beim Schulausflug. Einfach immer.

Jetzt gibt es Kinder, die mit der Lehrperson Hochdeutsch sprechen, wenn sie sie am schulfreien Nachmittag zufällig im Bus treffen. Wenn das passiert, beginnt etwas zu kippen.

Was genau?

Bis jetzt galt in der Deutschschweiz die Regel, dass man das Hochdeutsche nicht nach dem Gegenüber wählt. Es ist ausschliesslich die Situation, die darüber entscheidet: Hochdeutsch spricht man in der Schule, Kirche, möglicherweise im Militär. Das hat nichts mit der Person zu tun.

Wenn das zu kippen beginnt, kommt eine neue Regel ins Spiel. Mit bestimmten Personen, die bestimmte sozialen Eigenschaften haben, wird das Hochdeutsche im Alltag plötzlich möglich. Das sind in der Regel nicht Leute mit niedrigem sozialem Ansehen.

Damit wären wir am Beginn einer Entwicklung, die in Deutschland im 18. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Sie hat letztlich dazu geführt, dass der Dialekt vor allem im Norden des Landes zunehmend in die private Gebrauchssphäre zurückgedrängt wurde.

Was, wenn das auch in der Schweiz passiert?

In der Linguistik spricht man von einer «Vertikalisierung». Das heisst: Es ist nicht mehr ein Nebeneinander von bestimmten Varianten, die alle etwa gleich viel wert sind. Wenn es darum geht, mit wem spricht man welche Sprache, stellt sich sofort die Frage: Welches ist die bessere Sprache?

Hat der Dialekt bei diesem Abwägen die schlechteren Karten, dann kann das zu dessen Abwertung führen. Und wenn der Dialektgebrauch in der Folge als sozialer Makel empfunden würde, hätten wir ähnliche Verhältnisse wie im nördlichen Deutschland.

Wie schlimm wären denn deutsche Verhältnisse für die Schweiz?

Als Wissenschaftler nähme man das gelassen hin. Als Nicht-Wissenschaftlerin und «normale» Teilhaberin am Sprachleben, die ich gleichzeitig auch bin, habe ich zudem eine persönliche Meinung.

Die müssen Sie uns nicht verraten.

Sie tut auch nichts zur Sache. (lacht)

Das Gespräch führte Stefan Gubser.

Sendung: Radio SRF 1, Rendez-vous, 25.1.2021, 12:40 Uhr;

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