Lange galt Giulia Enders’ Begeisterung ganz allein einem Organ unseres Körpers. Ihr Elan war so gross, dass es der damaligen Medizinstudentin 2014 gelang, den Darm aus der Scham-Ecke zu holen. Über acht Millionen mal hat Enders «Darm mit Charme» weltweit verkauft. Damit hat sie ihren unverwechselbaren Stil geprägt, in perfekter Balance zwischen Wissensvermittlung und Unterhaltung.
Inzwischen ist sie promovierte Ärztin. Täglich erlebt sie, wie unnachgiebig Menschen auf ihren eigenen Körper blicken. Nach elf Jahren wurde es Zeit für ein neues Buch, das auch die anderen Organe in den Blick nimmt.
Liebevoller Blick auf den Körper
Wer über den Körper spricht, meint Enders, vergleiche ihn oft mit einer Maschine. In einer Sprache der Technik, der Wirtschaft oder der Kriegsführung gehe es um Effizienz. Enders hat im Spital Menschen getroffen, die sich schämen, nach einer Krankheit nicht schnell genug wieder fit zu sein. Andere sind ständig nervös und leiden unter Ängsten.
Mehr und mehr hat sie das Gefühl, statt ihrer Patienten eine merkwürdige Zeit, eine leidende Gesellschaft zu behandeln. In der die Welt als immer komplexer wahrgenommen wird.
Nicht nur der Darm hat Charme
Im neuen Bestseller «Organisch» vermittelt sie einen liebevollen Blick auf die menschliche Physis. Im typischen Enders-Sound zwischen Umgangssprache und tiefer Fachkenntnis beschreibt sie, wie der Körper mit Komplexität umgeht. Sie tröstet, indem sie erzählt, wie Lunge, Haut oder Gehirn Probleme lösen.
Das Immunsystem beschreibt sie nicht in Kriegsmetaphern, sondern als ein System der Sicherheit. «Es möchte uns möglichst gut kennenlernen. Dafür stellt es täglich hundert Milliarden neugieriger Zellen her.»
Wenn diese Zellen durch den Körper schwirren, sagen sie bei Giulia Enders «aha», «gutgut» oder auch mal «oh!». Die Kunst: Bei dieser Autorin klingt das nicht banal, eher authentisch.
Überblendung mit dem eigenen Leben
Giulia Enders hat im neuen Buch einen sehr persönlichen Ansatz gewählt. Um die Organe zu beschreiben, stellt sie jedem Kapitel eine Person aus ihrem eigenen Leben voraus.
Für das Immunsystem steht Onkel Bill: ein Freund der Familie, der hinter der Hecke seines Hauses einen Ort geschaffen hatte, an dem sich alle sicher fühlten. Von der Weichheit der Lunge erzählt sie anhand ihrer gütigen Urgrossmutter. Beim Gehirn bringt Enders ihre Schwester Jill ins Spiel, die auch das neue Buch mitkonzipiert und illustriert hat: «Denkt sie in Bildern, denke ich in Worten».
Ein Buch für alle
Mit ihrem persönlichen, zugänglichen und unterhaltsamen Blick auf wissenschaftliche Erkenntnisse schafft es Enders erneut, alle zu erreichen. So einig wie bei der Diskussion über «Organisch» zeigt sich der SRF-Literaturclub selten: Autorin Nina Kunz erkennt darin ein perfektes Gegenbuch zum Selbstoptimierungs-Trend, viel politischer und philosophischer als erwartet. Der Theatermacher Milo Rau hat ein Buch gelesen, dessen Lektüre 20 andere erspart.
Auch die Ärztin Natalia Conde unterstreicht, dass Enders’ neues Werk trotz aller Flapsigkeit mehr als ernst zu nehmen sei. «Organisch» will uns einen freundlichen, zugeneigten Blick auf den Körper zurückgeben. Und von ihm lernen, dass die Antwort auf Komplexität nicht Vereinfachung ist – anders als Populisten dies vorgaukeln.