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Soziologie des Schwitzens Schwitz es raus! Zeit für ein neues Körpergefühl

Es ist heiss und unsere Autorin schwitzt. Die Schweissperlen sollen weg – dabei erzählen sie uns viel über die Gesellschaft. Eine Erkundung.

Ich liege. Hinterkopf, Rücken, Arme, Po, Beine kleben auf dem kühlen Parkett. Noch ein paar wenige Schweissperlen belagern meine Stirn. Ich spüre, wie sie langsam verdunsten. Ich atme tief, meine Augen sind geschlossen. Hier will ich bleiben.

Meditieren ist eigentlich gar nicht meins. Aber extreme Situationen fordern extreme Massnahmen. Das Thermometer auf meinem Balkon zeigt 37 Grad. Wir schreiben das Jahr 2025, es ist Ende Juni und in Westeuropa tobt der Hitzewahnsinn.

Täusche ich mich oder braucht es immer mehr Metaphern – Hitzewelle, Hitzeglocke, Hitzestau – um das Ausmass dieser Erwärmung zu erfassen? Mein hitzegeprügelter Verstand kommt nicht hinterher. Ich bin überfordert und schnell reizbar. Und so frage ich mich, ob wir dann bald alle verrückt werden.

Hitze ist ein Stressfaktor für den Körper.
Autor: Sebastian Karl Arzt

Es sind längst nicht mehr all die komplexen Klimadaten und Zusammenhänge, die mich fordern. Auch nicht ihre teils absurde Politisierung (der Begriff «Klimakrise» steht in den USA auf einer Liste verbotener Wörter). Nein, es ist mein Körper, der aufbegehrt.

Hitze ist ein Problem

Sebastian Karl hilft mir, den körperlichen Stress besser einzuordnen. Er ist Arzt am Zentralinstitut Seelische Gesundheit in Mannheim und Mitherausgeber des Positionspapiers Klimawandel und psychische Gesundheit.

«Hitze ist ein Stressfaktor für den Körper und um diesen Stress muss sich das Gehirn erst einmal kümmern», bestätigt Karl. Bei knapp 40 Grad reden wir bereits von lebenserhaltenden Massnahmen.

Gefühlt greifen die bei mir schon, wenn ich mich an heissen Tagen in der grosszügig betonierten Basler Innenstadt aufhalte. Schnell bin ich nur noch damit beschäftigt, meine dauergerötete, aufgedunsene Zellmasse herunterzukühlen. Die hohe Luftfeuchtigkeit stört dabei die körpereigene Thermoregulation – mein Schweiss verdunstet nicht mehr.

Passiert das auch nachts beim Schlafen, haben wir ein Problem. Dann findet der Körper keine Ruhe mehr. «Bei Hitzewellen schlafen Menschen nicht gut», sagt Karl, «Schlafmangel kann psychische Erkrankungen verschlechtern, oder auch einer psychischen Erkrankung vorausgehen.»

Eigentlich freue ich mich im Sommer darauf, nach der Arbeit Glace zu essen, meinem Freund vom Tag zu erzählen. Doch warte ich in der Eisschlange auf dem brühenden Asphalt, fühle ich mich dumpf wie nach drei Tagen Magen-Darm-Infekt. Das ist sie wohl, die Müdigkeit und Schwere, von der Sebastian Karl spricht.

Gewiss ist, dass langanhaltende Hitze für ältere, kranke und wohnungslose Menschen, für Kleinkinder und Schwangere schnell sehr gefährlich werden kann. Studien zeigen auch, erklärt Karl, dass das selbst den Vulnerabelsten noch nicht bewusst ist.

Ich hingegen denke in der sengenden Hitze die Apokalypse nicht weit. Dabei schreibe ich diesen Text in einem modernen, klimatisierten Büro, markiere eher den Typ «athletisch-gesund». Wieso habe ich eigentlich ein Problem mit meinem schwitzenden Körper? Beim Joggen oder Hot Yoga, in der Sauna – da feiere ich den Schweiss immerhin als gewinnbringendes Lebenselixier.

Gutes und schlechtes Schwitzen

Antworten kennt Elena Beregow, Professorin am College for Social Sciences and Humanities der Universitätsallianz Ruhr. Sie leitet die Forschungsgruppe «Zur Soziologie des Schwitzens in einer heisser werdenden Welt» und sagt: «Schwitzen verweist immer auch auf die Verbindung zwischen Körper und Umwelt.» Sie forscht dazu, wie sich in einer Zeit zunehmender Hitzewellen unser Körperverständnis verändert.

Wir leben in einer Körperkultur, die stark auf Kontrolle und Kühle ausgerichtet ist.
Autor: Elena Beregow Soziologin

Wir schämen uns, wenn es beim Vorstellungsgespräch oder Coiffeur ungewollt tropft – und schlimmer noch für den Geruch, wenn das Deo versagt. «Wir leben in einer Körperkultur, die stark auf Kontrolle und Kühle ausgerichtet ist», sagt Beregow, «Geruch, Nässe oder Flecken gelten im Alltag als Störungen sozialer Ordnungsvorstellungen. Sie stehen für das Schmutzige und das Unkontrollierte.»

Das kenne ich. Wenn ich morgens verschwitzt ins Büro komme, fühle ich mich gehetzt und irgendwie nervös. Auf der Toilette trockne ich hektisch meine Stirn, trage ein zweites Mal Deo auf.

Das Schwitzen akzeptieren wir dagegen im Fitnessstudio, Wellnesstempel, Technoclub oder beim Sex. Dann, wenn es zeitlich eingehegt, fast schon ritualisiert ist, sagt Beregow. Optimierungs- und Gesundheitsdiskurse legitimierten die austretende Flüssigkeit. Auch in der Popkultur ist Schwitzen angesagt. «Es wird als Symbol für Authentizität, Rebellion oder Sinnlichkeit inszeniert.»

Sänger auf der Bühne bei Konzert mit Mikrofon.
Legende: Schweisstreibend: Im Pop verkörpert die schwitzende Extase Selbstaufgabe. Der Sänger der Band Future Islands, Samuel T. Herring, lebt es vor. Keystone/JOSE SENA GOULAO

So war es auch kürzlich beim Konzert von Future Islands. Die kraftvollen Dance Moves von Frontsänger Samuel T. Herring lassen ihn nach kurzer Zeit gigantische, professionell ausgeleuchtete, Tropfenfontänen versprühen. Herring singt und schwitzt, als würde sein Leben an einer Zeile hängen. Die Menge tobt. Es perlt von allen Seiten. Grandios.

Ja, hier gibt es die geballte Ladung Männerschmerz, der in all seinen körperlichen Aggregatszuständen sein darf. Und ja, ich kenne kaum eine Frau auf der Bühne, die so selbstsicher ihren Schweiss zum Teil der Performance macht.

Zwei Tänzer auf einer Bühne mit Lichteffekten.
Legende: Männlichen und weiblichen Schweiss auf der Bühne nehmen wir unterschiedlich wahr. Sängerin Charli XCX, hier zusammen mit Troye Sivan, probiert auf ihrer Sweat-Tour sich Schweiss wieder anzueignen. Getty Images/Rich Fury/MSG

«Schwitzen ist geschlechtlich codiert», zeigt Beregow in ihrer Forschung. Weibliche Körper sollten möglichst trocken, geruchlos und rein erscheinen. Männlicher Schweiss verbinde man mit Aktivität oder Stärke.

Tabu, weibliches Schwitzen

Diese Bilder formen Popkultur. Eine weibliche Aneignung findet das Schwitzen bei der schwedischen Sängerin Tove Lo, die auf ihrer EP Heat vom Freiwerden in schweisstreibender Bewegung singt.

Oder bei Charli XCXs Sweat-Tour, wo sie Clubschweiss als DIY-Ästhetik und queere Befreiung feiert. Beregow weist mich aber auch auf die erneute Regulierung durch kostenlos verteilte Deos bei Charli XCX-Konzerten hin.

Hitzewallungen bei Frauen (die das Menstruieren oder auch die Menopause aber bekanntermassen mit sich bringen) sind immer noch tabu. Deswegen können wir uns Botox unter die Achseln spritzen und Ganzkörperdeo auf dem ganzen Körper verteilen. Die Beauty-Industrie weiss das lästige Sekret längst zu vermarkten.

Schwitzen ist politisch

Historisch verweist Schweiss laut Beregow vor allem auf körperliche Arbeit: «Schweiss war lange Zeit ein Zeichen von Fleiss, aber auch von sozialer Position. Wer nicht schwitzt, hat es geschafft», sagt die Soziologin.

«Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen» – so lautete Adams Konsequenz nach dem Sündenfall. Für die Handwerker und Bauarbeiterinnen ist diese Arbeitsmoral während Hitzeperioden zur kaum zumutbaren Realität geworden – so meine Vermutung.

Klar nervt es, wenn der Schweiss in die Augen tropft. Aber alles ist besser als frieren.
Autor: Roger Kolb Bauspengler

Ich frage Roger Kolb. Er arbeitet seit 39 Jahren als Bauspengler auf Dächern. Vor ein paar Tagen hat sein Chef Strohhüte verteilt. «Die sind super. Sie spenden Schatten im Gesicht und lassen genügend Luft durch.» Als Lehrling litt er unter Hitze und Kälte stärker als heute. «Ich bin Hitze gewöhnt. Ich kann das Wetter nicht ändern, das muss ich akzeptieren.»

Übers Schwitzen sagt er: «Das gehört zum Job, klar nervt es, wenn der Schweiss in die Augen tropft, aber alles ist besser als frieren.»

Nach dem Interview mit ihm denke ich, dieser Text ist eine Überreaktion. Und: Der Körper gewöhnt sich an alles. Das macht mir Mut. Aber eben auch: Wie wir Hitze erleben und darüber nachdenken, ist sehr unterschiedlich.

«Wer unter welchen Bedingungen schwitzt, ist eine Frage sozialer Verhältnisse», sagt Beregow. Und damit auch, wo und unter welchen Umständen wir leben. In Spanien wurden dieses Jahr Temperaturen von bis zu 46 Grad gemessen.

Anfang August starb dort ein 85-Jähriger an den Folgen extrem hoher Temperaturen. In Simbabwe, Sambia und Malawi hungern Menschen aufgrund hitzebedingter Dürren. Das Wort Klimaflüchtlinge ploppt nun öfters auf.

Die Erde erwärmt sich immer schneller. Die Folgen verändern unsere Umwelt, gestalten Politik, lenken die Wirtschaft – und sie schreiben sich in unsere Körper ein. Beregow betrachtet den menschlichen Körper nicht als abgeschlossene Einheit, sondern als in Klima, Technik und soziale Normen eingebettet.

Kollektiver Hitzeschutz

Dieses vernetzte Denken bekomme ich aktuell beim Thema Hitzeschutz weniger zu spüren: Wenn sich die Icons in meiner Wetter-App dunkelrot färben und Medien wieder Hitze-Ticker schalten, werde ich unruhig. Überall fordern Abkühlungs-Tipps zum Akklimatisieren auf. Am Strassenrand stapelt sich der Verpackungsmüll neu gekaufter Ventilatoren. Handle jetzt!

«Um mich an die hohen Temperaturen, anzupassen, kann ich Massnahmen ergreifen, zum Beispiel mehr trinken und Räume abdunkeln. Und auch Dinge tun, die meiner psychischen Gesundheit guttun», sagt der Mediziner Sebastian Karl.

Wenn Hitzeschutz allein als individuelle Aufgabe kommuniziert wird, geraten soziale Ungleichheiten aus dem Blick.
Autor: Elena Beregow Soziologin

Mindestens genauso wichtig sei jedoch das behördliche Hitzemanagement. Informationen müssen herausgegeben und Städte zu kühleren Orten werden. «Naturräume bieten Abkühlung, Bewegungs- und Ausruhflächen für alle.»

Das sieht die Soziologin Elena Beregow ähnlich: «Wenn Hitzeschutz allein als individuelle Aufgabe kommuniziert wird, geraten soziale Ungleichheiten aus dem Blick. Es braucht gesellschaftliche Strategien – und mediale Aufmerksamkeit für strukturelle Fragen.»

Schweiss neu codieren

Eine dieser Fragen könnte lauten: Wie können wir unser Ideal der Kühle und Distanz durchbrechen? Wieso nicht das kollektive Schwitzen feiern? Auch dieser «freie Schweiss» ist gemäss Beregow kulturell codiert, zum Beispiel als Widerstand gegen Schönheitsnormen.

So gesehen gibt es keinen «biologischen Urzustand des Schweisses». Also dann, lasst uns das Schwitzen neu etablieren.

Frau mit Schweiss im Gesicht beim Sport.
Legende: Das Schweissbad öfter mal zulassen – schaffen wir das? Getty Images/Maskot

Auf Anraten Beregows nehme ich mir vor, den Körper als etwas Durchlässigeres zu betrachten: Mein Körper schwitzt eben, weil ich in dieser Welt lebe – mit all ihren Abgründen und mit all ihrem Zauber. Ich will nun versuchen, meinen Körper nicht mehr als ein schwitzendes «Etwas» abzuwerten. Einfach «sein». So wie beim Meditieren.

SRF 4 News, 11.08.2025, 7:20 Uhr; noes

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