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Proteste im Sudan Gegen Zwangsheirat und Beschneidung: Sudans Frauen haben genug

Seit Monaten protestieren die Menschen im Sudan wieder, darunter viele Frauen. Sie fordern nicht nur das Ende der Militärherrschaft, sondern auch das Ende des Patriarchats.

Anda Kamal steht mit erhobener Faust vor ihrem Wandgemälde in einem Kulturzentrum in Sudans Hauptstadt Khartum. Es ist das einzige Bild der 23-jährigen Studentin, das überlebt hat.

«Die Militärregierung hat die meisten Graffitis übermalen lassen. Sie wollen nicht, dass wir uns an die Zeit des Baschir-Sturzes erinnern und aus der Aufbruchstimmung von damals Energie für die Proteste von heute schöpfen», erklärt die junge Frau.

Eine jüngere Frau steht vor einem grossen bunten Wandgemälde und streckt die Faust in die Höhe.
Legende: Die 23-jährige Anda Kamal (links im Bild) hat den Sitzstreik von 2019 in einem Wandgemälde festgehalten. SRF / Anna Lemmenmeier

Eine Ära der Gewalt

Im April 2019 wurde Diktator Omar al-Baschir nach monatelangem Volksaufstand entmachtet. 30 Jahre hatte Baschir den Sudan bis anhin regiert. Seine Herrschaft war geprägt von Menschenrechtsverletzungen und zahlreichen bewaffneten Konflikten im Land. Unter Omar al-Baschirs islamistischer Regierung gab es keine Meinungsfreiheit: Wer sich gegen das Regime auflehnte, dem drohte Gefängnis, Folter oder Tod.

Für Frauen war die Baschir-Ära aber besonders einschränkend. Die sogenannten Sittengesetze ermöglichten es dem Regime, Frauen dafür zu bestrafen, wie sie gekleidet waren, was sie arbeiteten, oder wie sie sich in der Öffentlichkeit benahmen.

«Frauen wurden zum Symbol der Revolution»

Deswegen waren bei den Protesten ab 2018 auffallend viele Frauen dabei. Ihnen ging es von Anfang an nicht nur darum, den Diktator Omar al-Baschir zu stürzen – sie strebten einen grundlegenden Wandel der konservativen Gesellschaft an.  

«Viele Frauen wurden zum Symbol der Revolution, wie die Skulptur dieser jungen Frau zeigt», erläutert die Studentin Anda Kamal. «Sie hat während der Proteste einen Tränengaskanister zurückgeworfen. Ihr Foto ging um die Welt.»

Eine jüngere Frau mit Sonnenbrille steht neben einer gelb bemalten Holzskulptur.
Legende: Studentin Anda Kamal neben der Statue einer Frau, die zum Symbol der Revolution wurde. SRF / Anna Lemmenmeier

Erste Errungenschaften für die Frauen

Nachdem der Diktator im April 2019 abgesetzt worden war, folgte eine knapp zweijährige Übergangsphase, in der es auch eine gesellschaftliche Öffnung gab. Die Sittengesetze wurden abgeschafft, die weibliche Genitalverstümmelung wurde verboten. Frauen dürfen heute Hosen tragen und Fahrrad fahren.

Für Anda Kamal sind dies grosse Errungenschaften. «Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt. Es war nicht einfach, aber so eine Revolution ist auch eine grosse Sache.» Die Französische Revolution habe schliesslich auch zehn Jahre gedauert, fügt die Studentin hinzu.

Wandgemälde eines älteren Herrn mit Anzug und Krawatte.
Legende: Auch dem Premierminister der Übergangsregierung wurde ein Graffiti gewidmet. Er galt lange als das Symbol der Demokratie in Griffweite. SRF / Anna Lemmenmeier

Tägliche Proteste gegen das Militärregime

Am 25. Oktober letzten Jahres putschten die Militärs erneut. Das Demokratieexperiment im Sudan wurde damit jäh beendet. Am selben Tag jedoch gingen wieder tausende Sudanesinnen und Sudanesen auf die Strasse und forderten das Ende der Militärherrschaft.

Seither haben die Proteste nicht aufgehört. Das Volk hatte nicht geholfen, Baschir zu stürzen, nur um in einer anderen Militärdiktatur zu leben.

Seit sieben Monaten protestieren darum wieder fast täglich tausende Menschen in den grösseren Städten im ganzen Land. Die Sicherheitskräfte gehen mit unglaublicher Härte gegen sie vor. Rund 100 Menschen hat das Militärregime seit Oktober getötet – im Schnitt alle zwei Tage ein Toter.

Viele Frauen stehen auf einer Strasse und demonstrieren mit einer Flagge.
Legende: Auffallend viele Frauen auf der Strasse: Proteste in Khartum im März 2022. SRF / Anna Lemmenmeier

Frauen kämpfen für weitere Öffnungen

Wie schon 2019 sind auch heute auffallend viele Frauen an den Protesten. Für viele von ihnen hat sich die konservative Gesellschaft nicht genug geöffnet. Zum Beispiel für Weam Shawgi. Die 31-Jährige sitzt auf dem Sofa ihrer WG in Khartum. Über ihr prangt ein Porträt, gross auf ein weisses Tuch gesprayt.

«Situ war Anfang 20. Die erste Frau, die nach dem Putsch im Oktober bei den Demonstrationen getötet wurde. Eine andere Freundin wurde damals vergewaltigt», erklärt Weam Shawgi. Darum habe sie mittlerweile auch einen ganz persönlichen Grund, sich gegen die Militärregierung zu wehren, meint die junge Frau.

Wehe der, die widerspricht!

Weam Shawgi ist Feministin, ehemalige Journalistin, Poetin. Vor vier Jahren wurde sie schlagartig berühmt, als sie es in einer Talkshow wagte, einem islamischen Gelehrten zu widersprechen. Die Talkshow ging viral. Fremde Menschen beschimpften Weam Shawgi auf der Strasse, sie wurde bedroht, eine Gruppe von Männern tauchte gar mitten in der Nacht bei ihr zuhause auf.

Weam Shawgi musste das Land verlassen. Die erzkonservative und tiefreligiöse Gesellschaft im Sudan, wo jedes dritte Mädchen vor ihrem 18. Altersjahr verheiratet wird, wo neun von zehn Frauen beschnitten sind, diese Gesellschaft war nicht bereit für eine junge Frau, die einem religiösen Führer widersprach.

Eine junge Frau mit Brille lächelt neben einem auf Tuch gespraytem Porträt einer Frau mit Kopftuch.
Legende: Weam Shawgi bot einem islamischen Gelehrten die Stirn und musste in Folge das Land verlassen. SRF / Anna Lemmenmeier

Politiker wollen kein Umdenken

Sie sei es auch heute nicht, ist Weam Shawgi überzeugt. Ihrer Meinung nach hat sich in den letzten drei Jahren kaum etwas bewegt. «Als wir Frauen in der Übergangsphase der Zivilregierung dann tatsächlich gleichberechtigte Mitsprache in der Politik forderten, hiess es: ‹Warum?› Als wir über das Recht auf Verhütung und Abtreibung sprachen, hiess es: ‹Das ist gegen die Religion›.»

Sie habe lange nicht erkannt, dass es den zivilen Kräften im Land stets nur darum ging, ein politisches System durch ein anderes zu ersetzen. Um eine gesellschaftliche Revolution sei es den Politikern nie gegangen.

Frauen Frauen demonstrieren auf der Strasse und tragen gelbe Banner vor sich her.
Legende: Vielen Frauen geht der politische und gesellschaftliche Wandel zu wenig schnell. Darum gehen sie weiterhin auf die Strasse. SRF / Anna Lemmenmeier

Mit einer enormen Wut

Ein bisschen etwas geändert habe sich allerdings schon in den letzten drei Jahren, muss die junge Feministin eingestehen: «Die jüngere Frauengeneration ist enorm wütend. Und mutig. Das ist das Verdienst der Revolution.»

Sie selbst fühle sich mit 31 Jahren bereits alt. Und werde das Erlebte nun aufzeichnen. Für die nächste Generation. Eine Revolution also, deren Früchte wohl erst die kommende Generation ernten kann.

Radio SRF, International, 21.05.2022, 9:08 Uhr

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