In der Ukraine gab es vor dem Krieg rund 400 Museen, 3000 Kulturstätten und sieben Welterbestätten. Dazu zählen die Sophienkathedrale und das Höhlenkloster in Kiew, aber auch das historische Zentrum von Lwiw.
Der Krieg gefährdet das Kulturgut des Landes und damit das kulturelle Gedächtnis. Kunsthistoriker Kilian Heck engagiert sich dafür, dass die ukrainischen Kulturgüter geschützt werden und pflegt einen engen Kontakt mit seinen Berufskolleginnen und -kollegen in der Ukraine.
SRF: Was können Sie über das Ausmass der Zerstörung von Kulturgut in der Ukraine sagen?
Kilian Heck: Tatsächlich ist die Lage des Kulturgutes in der Ukraine je nach Region unterschiedlich. Die Zerstörungen betreffen vor allem die Gebiete im Norden und Osten des Landes, insbesondere die Städte Donezk und Luhansk, Tschernihiw und Charkiw. Im Moment ist die Rede von rund 400 zerstörten oder schwer beschädigten Kulturstätten. Dabei ist nicht ganz klar, ob damit Kirchen, Archive und Bibliotheken gleichermassen gemeint sind.
Seit Mitte März engagieren Sie sich für den Erhalt ukrainischen Kulturgutes. Wie sieht Ihre Zusammenarbeit innerhalb des Netzwerkes aus?
Seit März treffen wir uns in der Regel einmal wöchentlich mit unseren Kolleginnen und Kollegen online und haben dadurch einen Einblick in die Nöte der Kultureinrichtungen. Momentan sind Notstromaggregate gefragt, da die Energiezufuhr eingeschränkt ist. Temperaturschwankungen sind für museale Objekte ein Problem.
Jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die noch vor Ort sind, fühlen sich den Objekten des Museums gegenüber besonders verpflichtet.
Aber wir erleben auch die menschliche Seite und hören, wie es den Kolleginnen und Kollegen persönlich geht. Wir hatten in unserer letzten Sitzung beispielsweise zwei Kollegen zu betrauern, die beide aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzung umgekommen sind. Einer weiteren Kollegin ist durch eine russische Rakete die Wohnung zerstört worden.
Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine flüchteten sich in die Museumskeller, um sich selbst , aber auch das Kulturgut zu schützen. Wie sieht der Alltag dieser Menschen aus?
Ein Grossteil der Objekte ist aus den Vitrinen der Museen genommen worden, um sie in den Depots zu verwahren. Das heisst, die Vitrinen sind leer. Trotzdem öffnen viele der Museen, damit Besucherinnen und Besucher das Kulturerbe allein durch das Beschreiten der Museumsräume nicht vergessen.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurde der Lohn um 40 Prozent gekürzt, etwa die Hälfte von ihnen ist in den Westen geflohen. Jene, die noch vor Ort sind, fühlen sich den Objekten des Museums gegenüber besonders verpflichtet. Das finde ich unglaublich beeindruckend.
Haben Sie Angst, dass das kulturelle Erbe der Ukraine in Gefahr ist?
Das passiert gegenwärtig, das ist ein Faktum. Ein Beispiel: Die nördlich von Kiew gelegene Stadt Tschernihiw ist bereits zu Beginn des Krieges von Russland angegriffen und besetzt worden. Das Archiv der Stadt umfasste jahrhundertealte Archivalien, wichtige schriftstellerische Hinterlassenschaften. All das ist komplett durch Russland zerstört worden.
Es wurde gezielt Kunst erbeutet.
Wenn Archive zerstört werden, ist das nichts anderes als die Auslöschung einer kulturellen Identität. Und es sind viele Museen zerstört worden. Nehmen wir das Beispiel Mariupol. Unter dem Vorsatz, man wolle die Kunst, die Gemälde in Sicherheit bringen, sind Kunstwerke, etwa diejenigen des Malers Iwan Aiwasoski, aus dem Museum entwendet worden. Hier wurde gezielt Kunst erbeutet.
Handelt es sich bei der Zerstörung um Kollateralschäden oder ein gezieltes Vorgehen?
Ich kann nur Vermutungen anstellen, ich habe keine Beweise. Der Jurist Raphael Lemkin hat für die Vereinten Nationen den Begriff des Genozids geprägt und er hat in seinen frühen Definitionen auch die Zerstörung von Kulturgut oder Zerstörung von Identität eines Landes in die Terminologie eingereiht.
Mit dem Wissen der letzten Woche und Tage kann man sagen: Hier geht es darum, die ukrainische Kultur auszulöschen und gleichzeitig die Inbesitznahme des Landes durch Russland voranzutreiben.
Gemäss Haager Konvention von 1954 verstösst es gegen das Völkerrecht, kulturelles Erbe und Eigentum im Krieg vorsätzlich zu zerstören. Sowohl Russland als auch die Ukraine gehören zu den 133 Unterzeichnern. Und dennoch wird hier Kunst und Kultur aktuell zerstört. Hat Russland denn gar keine Konsequenzen zu befürchten?
Die Zerstörung von Kulturgut ist nach der Haager Konvention eindeutig ein Kriegsverbrechen. Man kann sich tatsächlich fragen, warum das nicht noch weitergehende Konsequenzen hat. So gehört Russland nach wie vor zu den grossen Verbänden für Museen und Denkmalpflege wie ICOM und ICOMOS.
Die Zerstörung von Kulturgut ist nach der Haager Konvention eindeutig ein Kriegsverbrechen.
Man müsste sich fragen, ob man da einen Riegel vorschiebt und verlangt, dass es zu einem Ausschluss Russlands kommt. Denn das, was Russland aktuell macht, verstösst nicht nur gegen die Haager Konvention, sondern auch gegen das, was in den Statuten und Satzungen dieser Verbände steht.
Das Gespräch führte Katrin Becker.