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Universitäten im Wandel Immer weniger Studierende: Geisteswissenschaften in der Krise?

An Schweizer Unis sinkt die Zahl der Studierenden in manchen geisteswissenschaftlichen Fächern deutlich. Was dahintersteckt.

Krise? Ursula Bähler, Französisch-Professorin an der Universität Zürich, sieht den Studierenden-Rückgang in ihrem und anderen Fächern mit etwas anderen Augen. «Es wird so viel, so tief und in so verschiedenen Gebieten geforscht wie noch nie. Das ist auch nötig angesichts der massiven Herausforderungen unserer Zeit.»

Mehr als die Zahlen beunruhigt Bähler «eine gewisse Geringschätzung gegenüber unseren Disziplinen, die mir immer wieder entgegenschlägt, auch in den Medien».

Die Sache mit dem Nutzen

Lea Haller, die Generalsekretärin der Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, spricht auch von einer «krisenhaften Wahrnehmung» dieser Fächer. Für sie sei es schwieriger als für die MINT-Fächer, ihren Nutzen zu vermitteln. Etwa, weil sie keine Berufsausbildung bieten.

«Bei geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern werden in erster Linie Kompetenzen ausgebildet.» Diese seien wichtiger denn je: «Verstehen, interpretieren, reflektieren, kontextualisieren.»

«Wir haben in der Gesellschaft einen Boom an Geistes- und Sozialwissenschaften», sagt Haller. «Aber dieses Label steht eben nicht drauf. Wenn man ins Museum oder ins Kino geht, Nachrichten konsumiert, wenn man sich informiert, was Diplomaten verhandeln, sind immer diese Wissenschaften dahinter. Aber in den Köpfen macht man diesen Link nicht unbedingt.»

Das müsse sichtbarer werden, finden Haller, Bähler und auch Flavio Eichmann, Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte. Sie wünschen sich, dass die «alten» Phil-I-Fächer künftigen Studierenden mehr ans Herz gelegt werden. Denn ein Studium der Geistes- und Sozialwissenschaften helfe dabei, die Welt zu verstehen.

Sorgenkind Geschichte

«Sorgen macht mir, was an den Volksschulen und am Gymnasium passiert», sagt Historiker Eichmann. «Alle fordern mehr Geschichtsunterricht. Aber das Fach wird die ganze Zeit abgebaut. In der Volksschule ist es aufgegangen im Gefäss ‹Räume, Zeiten und Gesellschaften›.»

Wir müssen auch ein bisschen den Sex-Appeal unserer Fächer zeigen.
Autor: Lea Haller Generalsekretärin der Akademie der Geisteswissenschaften

Eine Studie der PH Bern habe gezeigt, dass der Verlust an historischer Expertise in der Volksschule gewaltig sei. «Bei der aktuellen Maturareform wird Geschichte wieder abgebaut – zugunsten von Wirtschaft, Recht und Informatik. Und St. Gallen hat auf Kosten der Geschichte das neue Fach ‹Reflektiertes Denken› eingeführt. Was das sein soll, weiss niemand.»

Ursula Bähler stört, dass immer mehr Fächer und Kompetenzen in die Lehrpläne gepackt werden. «Ich würde mehr in die Tiefe gehen wollen als in die verzettelte Breite, die am Schluss keine ist.»

Womöglich eine Wellenbewegung

Vielleicht sei der Schwund der Studierenden in kanonischen Fächern wie Geschichte, Deutsch und Französisch nur Teil einer Wellenbewegung, sagt Lea Haller.

Möglich sei aber auch, dass wir gerade einen «radikalen gesellschaftlichen und technologischen Wandel» erleben, in dem «die Kompetenzen, die man in geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern lernt, tatsächlich nicht mehr so nachgefragt werden». Es könne auch sein, «dass wir in einer zunehmend technokratischen Ordnung leben, in einer zunehmend lustfeindlichen Zeit.»

Geisteswissenschaftlerinnen müssten sich mehr in Diskussionen einbringen, regt Haller an. Und: «Wir müssen auch ein bisschen den Sex-Appeal unserer Fächer zeigen. Ich habe beim Geschichtsstudium viel gelernt, auch Wissen, das mich als Persönlichkeit geformt hat und meine Haltung in der Welt.»

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 5.8.2024, 9:03 Uhr

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