«Das war wie Mord, nur das Gegenteil.» Elisabeth Meister war 16, als ihr ein 25-jähriger Musiker in der Zürcher «Blow Up»-Bar den Hof machte und sie im Hotel Splendid um die Ecke verführte. Von einem Tag auf den anderen wurde Elisabeth vom netten Mädchen von nebenan zur Ausgestossenen. «Es war die absolute Schande, unehelich schwanger zu werden», erinnert sie sich.
Als «gefallenes Mädchen», als «mannstoll und liderlich» wird Meister in den amtlichen Berichten bezeichnet. Wir schreiben das Jahr 1969, das moralische Korsett der Zeit war eng geschnürt. Der Druck kam von allen Seiten: Familie, Nachbarn, Behörden. Für die junge Elisabeth gab es keinen Ausweg.
«Man hat mich entsorgt»
Dabei war sie doch «nur fünf Minuten vom kleinkarierten Weg abgekommen», schreibt Meister in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Amputierte Mutter – Die Geschichte einer Zwangsadoption». Fünf Monate nach jenem Flirt mit dem Keyboarder einer Band fand sich der sexuell nicht aufgeklärte, fröhliche Teenager in einem Albtraum wieder. Ihr starker Bericht über jene Zeit ist zu keinem Zeitpunkt weinerlicher oder anklagend.
Die Angst, die Schwangerschaft würde das Ansehen der Familie zerstören, war gross. «Was die Nachbarn sagen war wichtiger als meine Situation», sagt Meister. Die Behörden griffen ein. Das Vormundschaftsamt entschied über ihr Leben.
Elisabeth wurde als sogenannte «Hausschwangere» aus der Stadt aufs Land geschickt, weit weg von zu Hause. «Man hat mich entsorgt, weil die Nachbarn sonst geredet hätten.»
Zwangsadoptionen waren in der Schweiz bis 1981 «normal»
Zwischen 1950 und 1980 wurden in der Schweiz schätzungsweise 10’000 bis 15’000 Kinder ihren Müttern weggenommen – häufig unter Zwang. Junge unverheiratete Frauen galten als moralisches Risiko. «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen» waren das Mittel des Staates, um uneheliche Kinder aus «unmoralischen Verhältnissen» herauszuholen.
«Es stand von Anfang an fest, dass das Kind zur Adoption kommt», erinnert sich Meister. «Die Muttergefühle wurden mir von der ersten Besprechung auf dem Jugendamt an ‹wegamputiert›.»
Das Schweizer Gesetz änderte sich erst 1981. Uneheliche Kinder wurden den ehelichen gleichgestellt, Zwangsadoptionen stark eingeschränkt. Für Elisabeth kam diese Veränderung jedoch zu spät.
Bitte keine Bindung zum Baby
Elisabeth Meister erinnert sich an den Tag, an dem ihre Tochter Michelle geboren wurde. «Sie wurde mir direkt nach der Geburt weggenommen. Und ich wurde ins Zimmer mit Frauen mit Fehl- oder Totgeburten verlegt. Man wollte verhindern, dass ich eine Bindung zu meinem Baby aufbaue.»
In den Augen der Behörden war sie als Mutter ungeeignet. Sie durfte ihre Tochter jeden Monat ein Mal besuchen, sie zahlte Kostgeld für das Kind, aber «die Verantwortung für mein Kind wurde mir ‹ausgeschwatzt› und die Bindung abgewürgt», schreibt Meister. Sie wurde so lange bearbeitet, bis sie einer Adoption zustimmte. Michelle war da knapp zwei Jahre alt.
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Bild 1 von 3. Michelle als Baby: Elisabeth Meister bekam von der Adoptivmutter gelegentlich ein Bild von ihr zugeschickt. Bildquelle: Elisabeth Meister.
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Bild 2 von 3. Der Tag, an dem Michelle adoptiert wurde. Bildquelle: Elisabeth Meister.
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Bild 3 von 3. Elisabeth Meister als Teenager: «Wir waren total naiv. Wohlbehütet, aber total naiv.» . Bildquelle: Elisabeth Meister.
Doch Elisabeth gab ihre Tochter nie ganz auf. Sie wusste, wo Michelle lebte, und durfte ihr jedes Jahr eine Geburtstagskarte schicken. «Ich wollte, dass sie weiss, dass ich sie nicht vergessen habe.»
Michelle wuchs wohlbehütet in einer Adoptivfamilie auf. Sie wusste, dass sie adoptiert war. Im Teenageralter hat sie die Karten von Elisabeth erhalten und schrieb aus dem Kinderheim, das ihre Adoption vermittelt hatte, ihre leibliche Mutter an.
«Leibliche Mutter, aber nicht meine Mami»
Das erste Treffen zwischen Elisabeth und Michelle war eine emotionale Achterbahnfahrt. «Ich war wahnsinnig nervös und hatte Angst», erinnert sich Michelle. «Ich wusste, dass sie eine neue Familie hatte.»
Elisabeth hingegen war überglücklich, ihre verlorene Tochter zu sehen. «Ich habe mich extra schön gemacht. Es war ein Gefühl wie Verliebtsein.» Die beiden sprachen stundenlang. Michelle stellte viele Fragen. Seither ist der Kontakt nie wieder abgebrochen.
«Elisabeth ist meine leibliche Mutter, aber sie ist nicht meine Mami. Sie ist mir eine enge Freundin», sagt Michelle Dreifuss heute.
Scham, Schmerz und Schuldgefühle
Elisabeth Meister begann Jahre später, ihre Erinnerungen festzuhalten. Fast 15 Jahre sollte sie an dem Buch schreiben. Immer wieder musste sie den Schreibprozess unterbrechen. Scham und Schmerz wurden zeitweise zu gross. «Es hat mich allein zwei Jahre gekostet, den Moment der Verzichtserklärung zu verarbeiten.»
Durch das Buch wurden auch Gespräche möglich, die Mutter und Tochter lange vermieden hatten. Elisabeth kämpfte mit Schuldgefühlen. «Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich mich nie gewehrt habe.»
Doch Michelle macht ihr klar: «Du bist nicht schuldig. Du bist das Opfer eines Systems und somit ich auch.»
Drei Generationen und die Last der Vergangenheit
Heute ist auch Elisabeths Enkelin Jill Teil der Geschichte. Sie ist 16 – genauso alt wie ihre Grossmutter, als diese schwanger wurde. «Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt ein Kind zu bekommen. Das würde mein Leben zerstören», sagt Jill.
Auf ihre Grossmutter ist sie stolz: «Es ist wichtig, dass sie darüber spricht. So erfahren mehr Leute, was damals passiert ist.» Durch das Erzählen ihrer Geschichte gewinnt Elisabeth Meister ihre Stimme zurück. Und erhebt sie für viele andere betroffenen Frauen mit. «Sie stehlen sich durch die Gesellschaft und hoffen, dass ihnen niemand auf die Schliche kommt. Man sollte ihnen erlauben, endlich aufrecht zu gehen.»