Was bedeutet für Sie Europa?
Robert Menasse: Man kann diese Frage, was Europa nicht nur für mich bedeutet, mit einer Gegenfrage beantworten. Stellen Sie sich vor, es gäbe Europa nicht. Es gäbe auf diesem Planeten den Erdteil Europa nicht. Was fällt Ihnen dazu ein? Wissen Sie, was spannend ist? Ich bin hundertprozentig davon überzeugt, dass es dann auch keine Weltgeschichte gegeben hätte.
Europa war der Motor der Menschheitsgeschichte: Es ist alles, von den schönsten und beglückendsten Höhenflügen, zu denen der Mensch fähig ist. Aber auch das Grauenhafteste, wozu der Mensch je imstande war, ist von Europa ausgegangen. Wir blicken auf die grössten Errungenschaften der Kunst, der Zivilisation, der Aufklärung und der Philosophie. Auf eine gewachsene Kultur, auf dynamische Kulturen, aber auch auf den Holocaust, Krieg, den Imperialismus, sowie den Kolonialismus. Alle Probleme der Welt sind letztlich europäische Probleme, weil sie konsequent Probleme der europäischen Geschichte sind.
Warum steckt Europa in der Krise?
Ich würde nicht sagen, dass Europa in der Krise steckt. Ich sage, die politischen Eliten von Europa haben Krisen, Bewusstseinsaussetzer. Sie leiden unter Geschichtsvergessenheit, fehlenden Kompetenzen und mangelnden Ressourcen. Sie haben alles Mögliche, sie haben Europa politisch einfach nicht im Griff. Wir haben eine politische Krise, aber noch lange keine General- oder Universalkrise.
Link zur Ausstellung
Europa ist ja nicht einfach nur ein politisches System. Im Gegenteil: die politische Krise kommt ja auch daher, weil Europa noch nicht wirklich ein politisches System gefunden hat. Europa ist zunächst ein historisch gewachsener Kulturraum und aufgrund seiner Geschichte, die zur Weltgeschichte wurde, ist es ein Sehnsuchtsraum. Und Sehnsüchte haben keine Krisen. Sehnsüchte haben das, was die Ökonomen gerne hätten, nämlich stetiges Wachstum.
Ist Europa überhaupt noch zukunftsfähig?
Sendungen zum Thema
Immer mehr nationalistische Parteien kommen an die Macht… Nationalisten sind immer eine Gefahr. Das haben sie immer wieder bewiesen. Von dem Zeitpunkt der Nationswerdung an, war der Begriff «Nation» und das Selbstgefühl der angehörigen Nation immer verbunden mit Gewalt, mit Krieg, mit der Produktion von Feinden und Sündenböcken. Irgendwann ist Schluss. Wenn es den Nationalisten noch einmal gelingt, Europa an die Wand zu fahren, spätestens dann ist Schluss. Dann werden sie vor den Trümmern stehen und sagen: Das hätte niemals passieren dürfen. Dann wiederholen wir 1945. Aber vielleicht gelingt es uns auch, das aufzuhalten.
Was wünschen Sie sich für die Ausstellung?
Ich möchte, dass man durch die Ausstellung geht und begreift, dass Europa mehr ist als die Mutter der gegenwärtigen Politik- und Finanzkrise. Europa ist ein gemeinsamer Kulturraum und Europa ist auch ein Identitätsangebot. Man hat einen Lebensort und eine kulturelle Heimat. Was dazwischen liegt, die Nation, die braucht man nicht. Und in der Schweiz ist es ja auch so, dass der Kanton mehr bedeutet, als die Nation.
Ich wünsche mir, dass man Europa als identitätsstiftendes Angebot begreift. Dass man sagt: Ich habe es schon immer gefühlt und jetzt sehe ich es! Das steckt in den Glanzleistungen und in der kritischen Auseinandersetzung mit den Verbrechen als Teil meiner Geschichte und meiner Identität. Das kann man hier begreifen, wenn man sich ein bisschen Zeit lässt und den Strukturen dieser Ausstellung nachgeht. Ein Traum, wenn dies am Ende möglichst viele so empfinden würden.