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Schweiz «Die Einsicht nimmt zu, dass unsere Zukunft in Europa liegt»

Die Spezies der «EU-Turbos» ist in der Schweiz vom Aussterben bedroht, behaupten böse Zungen. Der Rechtsprofessor Thomas Cottier ist einer von ihnen. Seine universitäre Karriere hat er just mit seiner Abschiedsvorlesung beendet. Davon, dass die Schweiz in die EU muss, bleibt er überzeugt.

Eine Schweizer und eine EU-Flagge wehen in Zürich.
Legende: Die Schweiz in der EU: Ein weiter, aber lohnender Weg, findet Thomas Cottier. Keystone

SRF News: Sind wir heute dem EU-Beitritt näher als vor 20 Jahren, als Sie ihren Posten an der Universität Bern antraten?

Thomas Cottier: Wir sind weiter entfernt von einem EU-Beitritt als vor 20 Jahren. Als ich angefangen habe, waren wesentliche Parteienverbände für einen EU-Beitritt. Dann kam die nationalkonservative Welle – und die hat dieses Land zwei Dekaden dominiert.

Zur Person

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Thomas Cottier, Professor für Europa- und Wirtschaftsrecht an der Universität Bern. Am Montag gab er seine Abschiedsvorlesung. Seit über zwanzig Jahren gehört er zu den prominentesten und ausdauerndsten Fürsprechern der Integration der Schweiz in die Europäische Union.

Sind Sie frustriert?

In einer direkten Demokratie und als Demokrat muss man die Mehrheiten akzeptieren. Beim Thema EU-Beitritt muss man eine langfristige Perspektive einnehmen, und wie in anderen Bereichen braucht auch dies hier vielleicht länger als anderswo.

Halten Sie einen EU-Beitritt der Schweiz nach wie vor für eine realistische Position?

Man nehme nur einmal die Auswirkungen der Frankenstärke. Sie geht auf Kosten von Arbeitsplätzen in der Schweiz, erzeugt Druck und Stress auf die Menschen. Das sind Folgen des Abseitsstehens der Schweiz von der europäischen Integration. Nach Luxemburg sind wir das am stärksten wirtschaftlich integrierte Land in Europa, haben aber nach wie vor eine eigene, und auch konservative Währungspolitik. Die Leute bezahlen jetzt den Preis dafür. Die Einsicht wird zunehmen, dass die Zukunft der Schweiz in Europa liegt.

In einer direkten Demokratie und als Demokrat muss man die Mehrheiten akzeptieren.

Von welchem Zeithorizont sprechen wir, von noch einmal zwanzig Jahren?

Das hängt sehr von den weiteren geopolitischen Entwicklungen ab, insbesondere das Verhältnis der EU zu den USA. Kommt ein umfassendes, transatlantisches Freihandelsabkommen, ist die Schweiz unter sehr starken Zugzwang – wenn sie ihre Arbeitsplätze im Land behalten und im Handel mit den USA konkurrenzfähig bleiben will.

In Ihrer Abschiedsvorlesung betonten Sie einmal mehr, dass sich das Ja zur Zuwanderungsinitiative im letzten Jahr nicht vereinbaren lässt mit unseren Verpflichtungen gegenüber der EU. Das wusste man ja schon am Abend der Abstimmung, sind wir heute weiter?

Die Einsicht ist gewachsen, dass wir auf die bilateralen Verträge nicht verzichten können. Und, dass die EU auch nicht bereit ist, hier Konzessionen zu machen. Die Schweiz wird sich entscheiden müssen, ob sie an dieser wirtschaftlich unsinnigen Kontingentlösung festhalten will. Oder ob sie die wirtschaftliche Prosperität des Landes in den Vordergrund stellen will. Die Leute werden sich 2016 entscheiden müssen.

Sie möchten den Artikel 121a, den Zuwanderungsartikel, mit einer Volksbefragung aus der Verfassung streichen. Rechnen Sie sich Chancen aus, dass das gelingt?

Nach meiner Einschätzung wird es so sein, dass das Freizügigkeitsabkommen in Kraft bleiben wird. Man wird eine Anpassung des Ausländergesetzes machen, beschränkt auf die Drittstaatsangehörigen. Damit wird man die Initiative nur teilweise umsetzen können. Das Stimmvolk wird sich dann für das eine oder das andere entscheiden. Wenn es gelingt, die Freizügigkeit zu halten, wird in einem zweiten Schritt die Zeit kommen, um unsere Beziehungen zur EU auf eine andere Grundlage zu stellen. Und das könnte in einer neuen Verfassungsbestimmung Ausdruck finden.

Das Gespräch führte Barbara Widmer.

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