Eine bemalte Leinwand, ein Mann im Wahn und ein abgeschnittenes Ohr: Mehr braucht es nicht für den perfekten Künstlermythos. Vincent van Gogh ist mit Abstand der berühmteste aller Kreativen, deren Werk mit psychischer Krankheit assoziiert wird.
Der Niederländer glaubte, den Verstand verloren zu haben, liess sich freiwillig in eine Nervenheilanstalt einweisen und starb schliesslich an den Folgen einer Schusswunde, die er sich selbst zufügte.
Fachleute streiten bis heute, ob van Gogh an Epilepsie, einer bipolaren Störung oder Schizophrenie litt. Jedenfalls zementierte der Zeit seines Lebens erfolgslose Künstler die Vorstellung, dass Talent nicht «gratis» zu haben sei und im Gegenteil einen hohen Tribut fordere.
Grenzenlose Hingabe
Dem Künstler wird das Zitat zugeschrieben: «Ich habe mein Herz und meine Seele in meine Arbeit gesteckt und dabei den Verstand verloren.» Das passt grossartig in die Schublade «Genie und Wahnsinn», fast zu schön, um wahr zu sein. Und tatsächlich: Wer eine ernstzunehmende Quelle für das Zitat sucht, landet ausschliesslich auf leicht dubiosen Facebook-Seiten mit inspirierendem Kachelcontent.
Die Liste der Künstlerinnen und Künstler, die an einer psychischen Krankheit litten oder leiden, ist lang. Sie reicht von Edvard Munch und Robert Schumann über Virginia Woolf, Franz Kafka, Ernest Hemingway oder Stephen King bis hin zu Billie Eilish.
Und Lady Gaga hat erst kürzlich in einem aufsehenerregenden Interview mit der Zeitschrift Rolling Stone von ihrem Zusammenbruch und dem folgenden Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik berichtet.
Zufall oder heisse Spur?
Was ist dran an den vielen Beispielen? Besteht ein Zusammenhang zwischen grosser Kreativität und psychischen Krankheiten? Nein, sagt Prof. Georg Juckel, ärztlicher Direktor des LWL-Klinikums der Ruhr-Universität Bochum. «Ein Zusammenhang lässt sich aus meiner Sicht nicht beweisen.»
Georg Juckel hat 2021 mit Paraskevi Mavrogiorgou die bestehende Studienlage analysiert. «Natürlich gibt es ganz aussergewöhnliche Künstler, die zum Beispiel eine manisch-depressive Erkrankung aufweisen. Aber es gibt genauso viele, wenn nicht noch mehr Künstler, die diese bipolare Erkrankung nicht aufweisen.» Es gebe keinen eindeutigen kausalen Zusammenhang und auch keine statistische Auffälligkeit, so der Chef der Psychiatrischen Klinik in Bochum.
Bedeutet das: Die Häufung vieler berühmter Namen ist nicht mehr als der Ausdruck unseres Wunsches, dass Genies bitte schön krank zu sein haben? Vielleicht, so Georg Juckel. Die Forschungslage sei auf alle Fälle dünn.
Sicher aber ist, es gibt Künstlerinnen und Künstler, die mit einer psychischen Erkrankung produktiv sind, aber es gibt auch viele andere, die, wie Robert Walser, durch Krankheit verstummen. «Es geht in jede Richtung, es gibt viele Häufungen, aber keine systematische Tendenz.»
Tupfen-Kunst von Yayoi Kusama
Äusserst produktiv ist mit ihrer psychischen Erkrankung Kunst-Superstar Yayoi Kusama. Die japanische Künstlerin leidet seit ihrer Kindheit an Halluzinationen und psychischen Zwängen und lebt freiwillig in einer psychiatrischen Klinik. Ihre Kunst, sich immer wiederholende Tupfen-Bilder und spiegelnde Installationen, sind eine Art Befreiung für sie.
Dass künstlerischer Ausdruck, Musik, Malerei, Texte und so weiter bei einer psychischen Krankheit erleichternd und sogar heilend wirken, sei mit Studien hinreichend belegt, sagt Prof. Georg Juckel. «Betroffene formulieren so, was sie innerlich fühlen und denken. Sie können es aus dem Kopf herausbringen und dadurch beginnt sich die Problematik zu relativieren. Plötzlich kann man eine gewisse Distanz dazu aufbauen.»
Adolf Wölfli und sein Riesen-Werk
Nicht jeder Kranke ist ein Künstler, nicht jede Künstlerin krank. Aber: Psychisch kranke Künstlerinnen und Künstler haben immer wieder Ausserordentliches erschaffen. Doch das wird lange nicht beachtet.
Der erste sogenannte «Geisteskranke», der als Künstler Beachtung fand, war Adolf Wölfli. Fast 40 Jahre lang komponierte, dichtete und zeichnete er in der Berner Klinik Waldau ein Riesen-Oeuvre.
Das künstlerische Schaffen psychisch kranker Menschen wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt ausgestellt, besonders der Künstler Jean Dubuffet und der Kurator Harald Szeemann haben sich dafür eingesetzt. Interessant ist dieses Schaffen, weil die Künstlerinnen und Künstler ohne Ausbildung zu autonomen Lösungen gelangen, die Regeln brechen und frischen Wind ins Kunstsystem blasen.
Seit den 1970er-Jahren gehören immer wieder auch Perspektiven von psychisch Kranken und sogenannten «Outsidern» zum Kulturbetrieb. Diverse Sammlungen und Institutionen sind darauf spezialisiert, etwa die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg.
Ballung in der Schweiz
Besondern viele Institutionen in der Schweiz kümmern sich um naive Kunst, Kunst von psychisch kranken Menschen oder «Outsidern»: beispielsweise die Collection de l’art brut in Lausanne, die auf die Sammlung von Jean Dubuffet zurückgeht, das Kunstmuseum Thurgau oder das «open art museum» in St. Gallen.
Eine besonders aufwühlende Geschichte besitzt das Museum Gugging auf dem Gelände der früheren Psychiatrie in Maria Gugging bei Klosterneuburg in Niederösterreich. 1885 als Irrenanstalt gegründet, wurden hier während des Nationalsozialismus tausende Kranke im Rahmen der «Aktion T4» ermordet. Anstaltsleiter Emil Gelny floh nach dem Krieg und wurde nie verurteilt.
Aus der einstigen «Irrenanstalt» wurde nach dem Krieg ein «Klinikum», in dem der Psychiater Leo Navratil begabte Patienten aus der Männer-Abteilung förderte. Darunter waren Künstler wie Johann Hauser, Oswald Tschirtner, August Walla oder der Lyriker Ernst Herbeck, der unter dem Pseudonym «Alexander» ergreifende Gedichte veröffentlichte.
David Bowie und Brian Eno besuchten auf Einladung von Kunstmagier André Heller das Zentrum für Kunst-Psychotherapie und suchten eifrig nach Erfahrungen ausserhalb des Rationalen. Über den Besuch hat Uwe Schütte kürzlich den Essay «Sternenmenschen» publiziert.
Exemplarisch beleuchtet Bowies Besuch in Gugging die Faszination, die kranke Künstler auf die Nicht-Kranken ausüben. Der Graben, der uns «Normalos» von den psychisch kranken «Sternenmenschen» trennt, ist eigentlich unüberwindlich.
Nur manchmal gibt es Kontakt zwischen beiden Welten, etwa wenn die Zeile eines kranken Dichters überraschend auch unsere Gefühle ausdrückt oder eine Zeichnung eine Saite in uns berührt, von der wir nicht wussten, dass es sie gibt.
Beachtung und Diskriminierung
Markus Landert hat lange das Kunstmuseum Thurgau geleitet und sich intensiv mit Outsider-Art beschäftigt. Aussenseiter-Künstlerinnen und -Künstler könnten durch ihre Kunst Respekt erhalten, der ihnen sonst verwehrt bliebe, so der kürzlich pensionierte Kunsthistoriker. Sie werden als kompetent wahrgenommen, als nicht-defizient.
Das könne tatsächlich ermächtigend sein. Aber es gebe auch eine Kehrseite der Medaille: «Aussenseiter sind die perfekte Projektionsfläche», so Landert.
Was das heisst? Die Nicht-Outsider können in sie hineininterpretieren, was sie wollen. Das grosse Interesse an den oft erschreckenden Lebensläufen der Künstlerinnen und Künstler bedient nicht zuletzt den Voyeurismus der «Normalos», die sich im geschützten Museumsrahmen gerne mit den Werken von Menschen auseinandersetzen, denen sie auf der Strasse nicht die Hand geben würden.
Es bleibt die Faszination
Auch die Selbst-Ermächtigung der vormals «Kranken» als Künstler ist begrenzt. Schliesslich definieren die innen, wer «aussen» steht.
Bleibt die Faszination am regelbefreiten Werk der Aussenseiter-Künstlerinnen und -Künstler. Und die Hoffnung darauf, dass Kategorisierung und Diskriminierung bald nicht mehr stattfinden. Vermutlich ein recht naiver Wunsch.