Die Künstlerin Moshtari Hilal hat ihr Gesicht unzählige Male gezeichnet. Die grosse Nase, das kantige Kinn, die schwarzen Haare, die überall wuchern. In den Selbstportraits überspitzt und verzerrt sie die Realität.
«Indem ich das Gesicht zum Objekt mache, lässt sich der Selbsthass besser ertragen», sagt sie. Die Zeichnungen waren irgendwann nicht mehr genug. Hilal wagte sich an autobiografische Erzählungen, wissenschaftliche Texte und Gedichte. Entstanden ist ein collagenartiges Buch zur Hässlichkeit.
Mit Kunst gegen den Selbsthass
Moshtari Hilal erzählt von einer übergriffigen Tante, die ihr ungefragt die Oberlippenhaare weggeätzt hat. Sie schreibt von der Nasen-OP ihrer Schwester. Der Entscheid fiel, nachdem sie von zwei Männern auf ihren «Zinken» angesprochen wurde.
«Der eine Mann war ihr Vorgesetzter (…). Er sagte: ‹ Du wärst so hübsch ohne deine grosse Nase. › Der andere (...) unser Vater. Er sagte: ‹ Was ist los mit dir. Von Tag zu Tag wird deine Nase immer grösser (...) › »
Auch Moshtari Hilal hörte diese Worte von ihrem Vater. In Bezug auf das Schreiben war klar: «Ich musste von meiner persönlich empfundenen Hässlichkeit ausgehen.»
Sie fragte sich: «Wie steht meine Vorstellung von Hässlichkeit im historischen Zusammenhang und hasse ich mit meinem Selbsthass womöglich nicht nur mich allein, sondern viele andere Menschen?».
Und sie blickte zurück in die Geschichte. Hilal zitiert etwa die «Ugly Laws». Hässliche Gesetze, die im 19. Jahrhundert obdachlose, kranke und deformierte Menschen ausgrenzten. Weil sie «unansehnlich» waren, mussten sie von manchen Orten fernbleiben. Die normale, schöne Ordnung – erschaffen von einer Elite – sollte nicht gestört werden.
Die Linien der Dehumanisierung laufen entlang unserer Kanten, unserer Haut, durch unser Fleisch hindurch, schreibt Hilal in ihrem Buch. Sie beleuchtet damit, wie zur NS-Zeit «jüdisch aussehende» Nasen korrigiert wurden. Die Anfänge der plastischen Chirurgie.
«Der jüdische Chirurg Joseph wählte seine nicht-jüdische Frau, um das Idealbild eines weiblichen Gesichts zu illustrieren. Seine Wahl begründete er mit der Ähnlichkeit ihres Profils und Nasenwinkels mit einer Zeichnung Leonardo da Vincis, in direkter Referenz zum griechisch-römischen Profil in der Kunst (…).»
Auch heute gelten symmetrische, junge und gesunde Körper als schön. Dank Weichzeichner, Photoshop und Apps lässt sich ein idealisiertes Bild von sich selbst erstellen.
In der Realität erschaffen Beauty-Produkte, Botox und Schönheits-OPs diese faltenlose, frisch aussehende Gesellschaft. Je mehr Menschen mitmachen, desto verbindlicher wird es.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Am Ende des Buches sucht die gebürtige Afghanin die Versöhnung mit der Hässlichkeit. Dafür schaut sie sich unter anderem kranke, alte Körper an.
Hässlichkeit umarmen
Vergänglichkeit trifft uns alle, sagt Hilal: «Wie kann ich mich also so mit der Hässlichkeit versöhnen, dass ich einen Wert in mir und in anderen Menschen sehe, der unabhängig ist vom Aussehen und davon, ob wir nützlich, richtig oder normal sind.»
Es gehe darum, den Blick auf Hässlichkeit zu verändern, ergänzt die Autorin. Mit ihrem Buch öffnet sie einen Raum für eigene Reflexionen. Um sich der Hässlichkeit einer von Schönheit getriebenen Gesellschaft bewusst zu werden.