«Es war einmal» beginnen viele Märchen, aber nicht das von den sieben Raben. Im Unterschied zu Froschkönig oder Schneewittchen gehört es nicht zu den berühmtesten der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Wer sich nicht mehr so genau erinnert: Darin sucht ein Mädchen seine Brüder, die der Vater im Zorn in Raben verwandelt hat.
Bei der Sonne sucht das Kind vergeblich, glücklich entkommt es dem kalten Mond, der schon Menschenfleisch riecht, nur die Sterne sind gut. Schliesslich befreit es seine Brüder und muss sich dafür mit einem Messerlein das Fingerlein abschneiden. Die Raben werden wieder Menschen «und sie herzten und küssten einander und zogen fröhlich heim.»
Die Geschichte enthält alles, was ein Märchen ausmacht: Diminutive, Magie, Horror und ein glückliches Ende. Unerklärliches passiert, ohne dass darum viel Aufhebens gemacht würde, und alles ist irgendwie lang her, ohne dass die Vergangenheit konkret würde.
Henrik Schrats Bilder zu den sieben Raben kommen aus dem Jetzt. Bei ihm tragen die Raben Turnschuhe, ein Tattoo oder ein Ronaldo-Shirt. Und die Reise des Schwesterchens führt durch Weltuntergangsszenarien, die sich Hollywood nicht schöner hätte ausdenken können.
Das ist erst mal überraschend und hat auch überraschend wenig mit dem Text zu tun. Es gebe eben grundsätzlich zwei Herangehensweisen, so Henrik Schrat im Gespräch mit SRF. Man könne entweder den Text verdoppeln. Oder: «ich zeichne, was nicht erwähnt, beim Lesen aber mit dem Text in Beziehung gesetzt wird.»
Henrik Schrats Bilder zu den Märchenwelten liefern ein Update und viele Bezüge ins Heute. Zwischen dem alten Text und den neuen Bildern bewegen sich die Leserinnen und Leser, mit merkbar angeregter eigener Fantasie.
Es geht nicht mehr nur nostalgisch darum, das wiederzufinden, was einem als Kind vorgelesen wurde, sondern die Märchen neu zu befragen: Ist die Bilderwelt stimmig oder nicht? Was macht es mit dem bösen Wolf, wenn er Hoodie trägt? Und wie passt die Wunderwelt alter Märchen im tiefen dunklen Wald zur zeitgenössischen Verlorenheit deutscher Bahnhofsvorplätze, Imbissbuden oder des Berliner Regierungsviertels?
Keine «Mittelaltersosse»
Er habe die Märchen mit seinen Bildern wieder aktivieren wollen, als Geschichten und Bezugsrahmen, so der Künstler. «Über unsere Vorstellungen der Grimmschen Märchenwelt wird so eine Mittelaltersosse gegossen. Das trägt der Heftigkeit dieser Texte keine Rechnung.»
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Bild 1 von 4. Hänsel und Gretel reisen durch die Zeit: Bereits im 19. Jahrhundert sind die Unterschiede zwischen den Bildwelten frappant. Illustrationen von Ludwig Emil Grimm (1825) …. Bildquelle: Ludwig Emil Grimm.
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Bild 2 von 4. … Ludwig Richter (1853) …. Bildquelle: Ludwig Richter.
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Bild 3 von 4. … Henry J. Ford (1889) …. Bildquelle: Henry J. Ford.
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Bild 4 von 4. … und Otto Ubbelohde (1909). Bildquelle: Otto Ubbelohde.
Nachdem Walt Disney mit seinen Filmen die Vorstellung von Märchen massiv beeinflusst hatte, war über die letzten 20 Jahre die Fantasywelt bestimmend. Knuffige Zwerge lieferten glücklicherweise beide.
Illustriert aber werden Märchen, seit es sie gibt. Die Bebilderung macht die angeblich uralten Geschichten nicht nur jeweils neu anschlussfähig, sondern prägt sie auch: Sie bestimmt, wie wir uns Hexen, Prinzen oder Wälder vorstellen. In der Schweiz waren die Illustrationen von Herbert Leupin besonders mächtig. Der Grafiker fand nicht nur einprägsame Bilder für Marken wie Zirkus Knie oder Pepita, sondern auch für die Märchenwelt.
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Bild 1 von 4. Hänsel und Gretel im Wandel der Zeit – im 20. und 21. Jahrhundert. Welche Illustration neuer und welche älter ist, ist gar nicht so einfach zu sagen: Katrin Brandt (2007) …. Bildquelle: Katrin Brandt/Atlantis Verlag.
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Bild 2 von 4. … Ulrik Schramms Hexenhaus (um 1983) …. Bildquelle: Ulrik Schramm/Tosa Verlag.
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Bild 3 von 4. … Herbert Leupins Hexe (1944) und ... Bildquelle: Herbert Leupin.
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Bild 4 von 4. ... sein Hänsel hinter Gittern (1944). Bildquelle: Herbert Leupin.
Ludwig Richter verortete Grimms Märchen Mitte des 19. Jahrhunderts im süsslichen Biedermeier. Otto Ubbelohde überformte sie mit Jugendstil-Ranken. Nach wie vor herausragend sind die Illustrationen, die Werner Klemke 1963 für Grimms Märchen schuf.
Der wohl renommierteste Büchermacher der DDR erfand schlagend einfache und elegante Lösungen. 1967 beschrieb er für die Zeitschrift «Sibylle» seine Qualitätsstandards: «Es ist damit wie mit dem Make-up oder dem Parfümieren. Merkt man's erst, war's schon zu viel. Es ist das Einfache, das schwer zu machen ist.»
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Bild 1 von 3. Werner Klemkes illustrierte Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen ist herausragend. Klemke rhythmisiert, illustriert, konterkariert und kommentiert den Text. Sei es in «Allerleirauh» (1963) …. Bildquelle: Werner Klemke.
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Bild 2 von 3. … «Rotkäppchen» …. Bildquelle: Werner Klemke/Beltz.
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Bild 3 von 3. … oder «Das kluge Gretel» (1963). Bildquelle: Werner Klemke.
Übervater Werner Klemke widmete Henrik Schrat den ersten der fünf Bände, die unter dem Titel «Rodung. Kreuzung. Lichtung. Gesamtausgabe Grimms Märchen. Neu bebildert von Henrik Schrat» im Hamburger Textem Verlag erschienen sind.
Produkt und Prozess
Fast noch wichtiger als die fertigen Bücher ist für Henrik Schrat die Community, die das Projekt begleitete: Viele der Bilder entstanden entlang einer Feedbackschlaufe in einer eigens aufgebauten Gemeinschaft.
In Newslettern, Mails oder auf Instagram wurden projektbegleitend die drängendsten Fragen des Künstlers diskutiert: Soll man das Böse zeigen? Was ist mit Texten anzufangen, die heute eigentlich nicht mehr gehen?
Die Community half auch bei der Finanzierung des Monster-Projekts, es gab Sonderdrucke, Gönnerabos, einen Schmuckschuber, oder ausgeklügeltes Merch: Wer wollte, konnte gar einen Cameo-Auftritt in den Illustrationen buchen.
Ursprungsmythos
Als Jacob und Wilhelm Grimm Anfang des 19. Jahrhunderts ihre «Kinder- und Hausmärchen» sammelten, hatten sie kein Bilderbuch im Sinn. Die Sammlung war gewissermassen ideologisch motiviert. Mit der beginnenden Industrialisierung nahm die Komplexität der Lebenswelten zu und die Aufklärung hatte ihre Versprechen nicht für alle eingelöst.
Fortschrittsüberdrüssigen gewährten die Kinder- und Hausmärchen ein warmes Plätzchen am Ofen und Schutz in einem idealisierten Gestern, «in den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat». So beginnt programmatisch der Froschkönig, das allererste Märchen der Grimmsammlung.
Pure Propaganda
Neben dem Rückgriff auf eine idealisierte Vergangenheit gaben die Gebrüder Grimm vor, die mündliche Erzähltradition retten zu wollen, die im Volk zu verschwinden drohe. Dabei übernahmen die Gebrüder rund 40 Prozent der Märchen aus schriftlichen (meist französischen) Quellen und hörten die restlichen 60 Prozent von gebildeten Damen aus dem bürgerlichen Umfeld.
Tatsächlich stellen diese Märchen kein Archiv oraler Traditionen dar, sondern sind eine neue literarische Gattung, die vor allem Wilhelm Grimm prägte. Er bearbeitete die zusammengesammelten Texte kräftig: Derbes wurde besänftigt, Moralisches verstärkt, Sexuelles gestrichen. Die Sammlung ist ein Spiegel der Zeit und ihrer Werte.
Unzählige Deutungen
Jede Leser-Generation findet neue Lesarten: Ursprünglich nicht für Kinder gedacht, wurden die Märchen im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend pädagogisiert und lieferten mit klaren Konflikten Orientierungshilfe. Kulturwissenschaftlerinnen oder Ethnologen identifizieren in der vergleichenden Motiv-Forschung wiederkehrende Elemente wie verlorene Kinder oder magische Helfer und destillieren sie zu internationalen Mustern.
Die sozialhistorische Forschung fragt, welche Lebensrealitäten in den Geschichten aufscheinen: Hunger, Armut, weibliche Abhängigkeit. Die psychoanalytische Deutung wiederum sieht in Märchen symbolische Prüfungen des inneren Wachstums, sucht und findet archetypische Initiationsriten.
Viele Facetten
Bleibt ein Allgemeinplatz: Märchen wirken vielschichtig. Und sie faszinieren bis heute, denn sie verhandeln das Wichtige: Angst und Mut, Verlust und Hoffnung, Gerechtigkeit und Überleben.
Märchen erlauben ihren Leserinnen und Lesern, dunkle Zonen der Erfahrung zu betreten – und schaffen am Ende stets Ordnung. In einer Welt voller Komplexität, bieten sie kurze Wege zu grossen Gefühlen. Für die Riesenangst im dunklen Wald genauso wie für die goldglänzende Freude über ein Happy End. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.