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Neuer Roman von Paul Lynch «Jenseits der See»: Höllenfahrt zum Kern des Menschseins

Der irische Booker-Preis-Träger Paul Lynch verhandelt in seinem grandiosen Roman «Jenseits der See» Grundfragen des Menschseins. Erbarmungslos ehrlich – und voller Weisheit.

«Die Antwort auf den Sinn deines Lebens … ist wirklich einfach. Sie findet sich in dem, was du nicht geschaffen hast.» Sätze wie diese aus «Jenseits der See» von Paul Lynch gehen tief. Man muss die Lektüre kurz unterbrechen, muss nachdenken.

Es ist eine der grossen Qualitäten dieses packenden, tiefsinnigen und sprachgewaltigen Stücks Literatur, dass es Leserinnen und Leser immer wieder direkt anspricht. Sie in die Pflicht nimmt, sich selbst zu befragen. Was gibt meinem Leben Sinn?

Die grosse Geste

Es sind die grossen Fragen, die der 48-jährige Paul Lynch aufwirft. Das Werk ist vor sechs Jahren im englischen Original erschienen, jetzt auf Deutsch.

Lynch stellt sich damit in die Tradition von grossen Autoren wie Melville, Conrad oder Hemingway, deren Bücher vordergründig oft Abenteuergeschichten bieten. Dahinter dringen sie jedoch zu philosophischen Tiefen vor, die das Lesepublikum im Innersten treffen.

Im Sturm verschollen

So verhält es sich auch bei Paul Lynch. Der Abenteuerplot seines Buchs ist schnell erzählt: Zwei mexikanische Fischer geraten auf dem Pazifik in einen Sturm. Motor und Navigation gehen kaputt. Das Boot treibt führungslos auf dem Ozean. Über Monate.

Bootsfahrer im Sturm mit grosser Welle im Hintergrund.
Legende: Die zwei Fischer in Paul Lynchs Roman befinden sich auf offener See in einem Sturm. Hier begegnen sie der rohen Natur. Getty Images/shutterjack

Die Fischer sind ohne Schutz der sengenden Sonne ausgesetzt, dem heftigen Regen, Stürmen, Winden. «Sie sitzen wie Gefangene in der Sonne», heisst es im Buch. «Schauen und schauen, bis Himmel und Ozean flach, eins zu werden scheinen.»

Die beiden magern ab, dursten, fangen Regenwasser auf, essen rohen Fisch oder Vögel, die sie zu fassen kriegen, werden krank. Sie befinden sich in einem existenziellen Vakuum.

Das quälende Schweigen der Natur

Es gibt keine Aussicht auf Rettung. Keinen Trost. Nur die feindliche Natur. Und diese gibt ihnen keine Antwort auf die Frage, was denn der Sinn des Martyriums sei.

Der eine der Männer, der Ältere, steigert sich in eine Betriebsamkeit, gibt rastlos Durchhalteparolen von sich, negiert die Realität, halluziniert von der baldigen Rettung. Der Jüngere flieht sich in eine verstörende Religiosität: Er verkehrt die Tortur in eine göttliche Prüfung und Gnade. Und er ergibt sich ohne Gegenwehr in das Unvermeidliche.

Buchhinweis

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Paul Lynch: «Jenseits der See». Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Klett-Cotta, 2025.

Im Grunde ist es die uralte Frage, die Paul Lynch umtreibt – die Frage, was der Mensch an die Stelle des seit Nietzsche toten Gottes stellt: Was gibt dem Leben Sinn, wenn der universelle Sinnspender ausfällt?

Sinn in der Sinnlosigkeit

Der Roman schafft mit literarischen Mitteln einen Raum, in dem die Spannung sichtbar wird, welche die Frage auslöst. Und die zuletzt das Menschsein im Kern umtreibt.

Eine Anleitung, wie sich Sinn finden liesse, gibt der Roman nicht. Doch er vermittelt zumindest eine Ahnung.

Vier Fragen an Paul Lynch

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SRF: Paul Lynch, wie haben Sie es geschafft, dieses Buch zu schreiben, das ein grauenhaftes Martyrium schildert?

Paul Lynch: Wenn man es schreibt, ist der Prozess sehr langsam. Das schafft Distanz. Ich musste für dieses Buch die Physik des Seelebens verstehen und das abgrundtiefe Universum, das diese beiden Männer umgibt. Ich schaffe mit ihnen ein anthropologisches Labor und stelle Fragen darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Wie viel Menschlichkeit steckt in einem Menschen? Woraus bestehen wir?

Was hat Sie an diesem Experiment interessiert?

Wir sind in unserem Alltag meistens sehr beschäftigt und eingebunden. Es ist oft schwierig, eine echte Begegnung mit unserem inneren Wesen zu haben und zu erleben, was wir im Kosmos sind. Dieses Buch zwingt diese beiden Figuren in diesen Raum, in dem sie mit ihrer innersten Natur konfrontiert werden. Und genau das wollte ich tun: Sehen, was entsteht, wenn alles weggenommen wird.

Neu ist diese Fragestellung nicht. Was hat Sie dennoch daran gereizt?

Die moderne Fiktion kümmert sich oft weniger um derartige Grundfragen. Sie ist zum Beispiel oft sehr politisch. Aber die Frage, wer wir in der Welt sind, ist deswegen nicht verschwunden. Wir haben es nur aufgegeben, via Literatur nach Antworten zu suchen. Als Gesellschaft ist es fundamental wichtig zu fragen: Wie geben wir uns selbst Bedeutung?

Was ist Ihr Wunsch, den Sie mit diesem Roman verbinden?

In diesem Buch wollte ich einen Text schaffen, der den Leser in die Stille, in den Raum, in die Weisse und in die gleichen Bedingungen versetzt, die diese Figuren empfinden. Damit die Diskussion über den Sinn unseres Daseins wieder aufleben kann. Ich schliesse mich einer literarischen Tradition an, die es meiner Meinung nach schon immer gab, nämlich der Tradition von Schriftstellern, welche die tiefsten Fragen nach dem Sinn stellen.

In einer Schlüsselszene kurz vor Schluss des Buchs erlebt die Metapher der gnadenlosen Stille des Ozans eine Umdeutung: War sie zuerst Ausdruck der bedrückenden Sinnlosigkeit des Lebens, wird sie nun mehr und mehr zum Bild für die Möglichkeit, in seinem Leben selbst Sinn zu schaffen.

Einem der Fischer «ist, als wäre die grosse Stille in seinen Körper eingedrungen, als liefe sie durchs Blut, linderte die Sehnsüchte des Herzens. … Allmählich beruht sein Geist auf dem Gefühl dessen, was Stille bedeuten könnte».

Radio SRF 2 Kultur, Literaturclub: Zwei mit Buch, 24.8.2025, 11:03 Uhr

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