Die Schweizer Autorin Nora Osagiobare ist zum zweiten Mal in Folge auf Platz 1 der SRF-Bestenliste gelandet – mit ihrem bitterbösen Seifenoper-Roman «Daily Soap». Hier alle im Juni von der Jury gekürten Lese-Highlights im Countdown.
5. Chimamanda Ngozi Adichie: «Dream Count» (18 Punkte)
Chimamanda Ngozi Adichie ist ein Weltstar der Literatur. Ihr Roman «Americanah», 2013 erschienen, war ein internationaler Erfolg. Nun ist mit «Dream Count» ihr lang erwarteter zweiter Roman erschienen. Aus der Perspektive von vier Frauen um die 40 schreibt sie über Freundschaft, Selbstbestimmung und Afrika-Klischees. Die Geschichten der vier, namens Chiamaka, Zikora, Omelogor und Kadiatou, sind durch Liebe, Sehnsucht und der Suche nach Glück miteinander verbunden.
In ‹Dream Count› verdichtet Adichie feministische Haltung und literarische Intensität zu einem Text, der nachhallt. Ein Pageturner, der zum Nachdenken anregt – poetisch und voller Sogkraft!
4. Ocean Vuong: «Der Kaiser der Freude» (21 Punkte)
Sein feinsinniger Debütroman «Auf Erden sind wir kurz grandios» machte ihn zum internationalen Literatur-Star: den in Vietnam geborenen und in den USA aufgewachsenen Ocean Vuong. Nun ist sein zweiter Roman auf Deutsch erschienen. «Der Kaiser der Freude» erzählt mit grosser Sinnlichkeit von einer Freundschaft zweier versehrter Menschen und von den Schattenseiten des modernen Amerika. Hauptfigur ist Hai, der in einem heruntergekommenen Kaff in New England lebt. Hai schluckt Pillen und denkt an Selbstmord – bis er sich mit Grazina, einer Überlebenden des Zweiten Weltkriegs, anfreundet.
‹Der Kaiser der Freude› ist ein eigenwilliger, bezaubernder Freundschaftsroman. Ocean Vuong beschreibt die Realität prekärer Arbeitswelten in den USA voller Wärme und mit Blick für das Wundersame.
3. Kristine Bilkau: «Halbinsel» (24 Punkte)
Eine Tochter, die schlaflos in ihrem ehemaligen Kinderzimmer liegt. Eine Mutter, die gerade erst die Fühler nach möglichen Lebensveränderungen ausgestreckt hat und sich nun in ihrer alten Rolle wiederfindet. Ein Meer, das die Klimakrise spiegelt. Ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis 2025, handelt Kristine Bilkaus tiefschürfender Roman «Halbinsel» von Lebenskrisen und Bewältigungsversuchen und vom Umgang des Menschen mit der Natur.
Ein stiller Roman, der beharrlich und klug den grossen Fragen des Lebens nachgeht.
2. Fabio Andina: «Sechzehn Monate» (28 Punkte)
März 1944: In Cremenaga, einem kleinen Dorf an der italienisch-schweizerischen Grenze, wird der Schreiner Giuseppe Vaglio von der deutschen SS verhaftet. Er hat Juden und verletzten Partisanen geholfen, in die Schweiz zu gelangen. Im Juli 1945, sechzehn Monate nach seiner Verhaftung, kehrt Giuseppe zurück: verwundet, abgemagert, auf einem Ohr taub. Bis an sein Lebensende wird Giuseppe über das, was er erlebt hat, schweigen. Das Schweigen bricht nun der Tessiner Autor Fabio Andina. In «Sechzehn Monate» arbeitet er die Geschichte seines Grossvaters literarisch auf.
Die Sprache: klar, schnörkellos, unpathetisch. Ein Buch, das lange nachhallt, nicht nur, weil es die grauenvolle Deportation von Fabio Andinas Grossvater ins Zentrum stellt.
1. Nora Osagiobare: «Daily Soap» (36 Punkte)
«Daily Soap» ist als Seifenoper konzipiert und nimmt das Genre gleichzeitig auf die Schippe. Es geht um Reiche und Arme, Schwarze und Weisse. Und vor allem um Rassismus in der Schweiz. Jegliche Doppelmoral wird gnadenlos entlarvt. Das Buch hat mehrere Handlungsstränge. Einer davon: Das Zürcher Familienunternehmen Banal & Bodeca ist einem Shitstorm ausgesetzt. Um den Vorwurf des Rassismus zu entkräften, möchte es eine Reality-Show mit Schwarzen Darstellern produzieren lassen.
‹Daily Soap› ist ein literarisches Feuerwerk. Dieser starke Debütroman brachte mich gleichzeitig zum Lachen und zum Nachdenken – pure Sprachkunst!