Nach anderthalb Jahren Corona lässt sich beobachten, dass Frauen in den Line-Ups vieler Musikfestivals noch stärker unterrepräsentiert sind als vor der Krise. Das jedenfalls hat die Musikerin Sophie Hunger für den Rock/Pop-Bereich anfangs Sommer als Gastautorin im « Der Spiegel » festgestellt.
Auch die aktuelle Vorstudie zu den Geschlechterverhältnissen im Schweizer Kulturbetrieb zeigt, dass die Sparte Musik am meisten Nachholbedarf hat: Die Frauenbeteiligung auf den Schweizer Bühnen schwankt zwischen 10 Prozent (Jazz/Pop/Rock) und 33 Prozent (Klassik). Das Problem ist also ein grundsätzliches.
Doch es gibt Musikfestivals, die eine mehr oder weniger ausgeglichene Genderbalance in ihren Programmen erreichen. Wir stellen drei bevorstehende Festivals aus drei verschiedenen Genres vor.
Cully Jazz (20. bis 29. August 2021)
Was macht das Festival besonders?
Cully Jazz findet jährlich inmitten des Waadtländer Weinbaugebiets Lavaux statt. Das Festival zeichnet sich aus durch ein hippes Publikum, das eine starke Gemeinschaft bildet und viel Wein trinkt. Neben der Hauptbühne gibt es 40 Gratiskonzerte in Kellern, auf den Plätzen und am Seeufer. «Jazz» wird in Cully offen definiert – Clubsounds, Avantgarde-Pop und Weltmusik finden im Programm genauso Platz wie der harte Kern der Schweizer (Nachwuchs-)Jazzszene.
Welche Rolle spielt der Gender-Aspekt bei der kuratorischen Arbeit?
Mal ehrlich, von einer 50:50-Genderbilanz ist Cully Jazz noch weit entfernt. Wenn man aber bedenkt, dass hierzulande im Jazz
durchschnittlich nur 11.8 Prozent Frauen
auf der Bühne stehen, ist das Engagement für mehr Gleichberechtigung im Programm deutlich spürbar. Nicht nur Sängerinnen stehen im Zentrum, sondern auch Instrumentalistinnen wie die Harfenistin Julie Campiche oder die Schlagzeugerin Anne Paceo. Da Musikerinnen nach wie vor weniger sichtbar sind, brauche es einen Extra-Effort an Recherche, sagt Co-Direktor Jean-Yves Cavin. Sich selbst eine Frauenquote aufzuerlegen hält er allerdings für wenig produktiv – das müsse dann schon vonseiten der Kulturpolitik kommen.
Wen darf man nicht verpassen?
Die französisch-kamerunische Soulsängerin
Sandra Nkaké
interpretiert in ihrem neuen Unplugged-Projekt Songs von Björk, Joni Mitchell oder Nina Simone neu. Gänsehautfeminismus!
ZeitRäume Basel (9. bis 19. September 2021)
Was macht das Festival besonders?
Die Idee von ZeitRäume Basel: Neue Musik und Architektur verbinden. Die Biennale schafft Kompositionen und Soundinstallationen für ausgefallene Orte in und um Basel – dieses Jahr zum Beispiel für einen Flipperclub, für ein Feuerwehrschiff auf dem Rhein oder den Lesesaal der Unibibliothek.
Welche Rolle spielt der Gender-Aspekt bei der kuratorischen Arbeit?
Während die Konzertmusik nach wie vor von Komponisten dominiert ist, bringt eine jüngere und weiblichere Generation neue interdisziplinäre, multimediale und kollaborative Arbeitsformen mit. Diesen Wandel in der Szene der neuen Musik greift ZeitRäume Basel auf. Neun Uraufführungen von Frauen, zehn von Männern und drei von geschlechtsgemischter Co-Autorschaft – hinter dieser erfreulichen Bilanz steckt keine starre Quote, sondern das Mindset der Co-Leitenden Bernhard Günther und Anja Wernicke: offen, gendersensibel und zeitgemäss sein, breit netzwerken und in neuen Formaten denken.
Was darf man nicht verpassen?
«Der Klang von Birsfelden» der Zürcher Komponistin Cathy van Eck. Die interaktive Klanginstallation aus Alltagsklängen und Interviews beschäftigt sich mit der sich stark wandelnden Gemeinde Birsfelden (BL). Agglo entdecken übers Ohr!
Reeperbahn Festival Hamburg (22. bis 25. September 2021)
Was macht das Festival besonders?
Beim Reeperbahn Festival verwandelt sich auch dieses Jahr das St. Pauli-Quartier in Hamburg in eine riesige Bühne für über 150 Künstler:innen von Indie über Club bis Punk. Zudem ist das Festival eine wichtige Austauschplattform des europäischen Musikbusiness inklusive Konferenz.
Welche Rolle spielt der Gender-Aspekt bei der kuratorischen Arbeit?
Gleiche Gender-Chancen im Musikbusiness – das ist eine Kernforderung des Reeperbahn Festivals. Dabei arbeiten die Kuratorinnen und Kuratoren mit der Keychange-Pledge, einer Absichtserklärung, die mittlerweile über 300 Festivals unterschrieben haben. Sie hat ein konkretes Ziel: Bis 2022 soll in den Festival-Line-ups ein Geschlechterverhältnis von 50:50 erreicht werden. Das Reeperbahn Festival hat die Initiative gemeinsam mit internationalen Partnerinstitutionen ins Leben gerufen und leitet ein Förderprogramm für weibliche und non-binäre Talente. Bei diesem Engagement versteht sich von selbst, dass es mit gutem Beispiel vorangehen muss und präsentiert auch dieses Jahr ein diverses Festivalprogramm.
Wen darf man nicht verpassen?
Das Trio
Shishi aus Litauen
formierte sich, als drei Sängerinnen im Jahr 2018 beschlossen, zum ersten Mal in ihrem Leben Instrumente in die Hand zu nehmen. Äusserst erfrischender Surf-Trash! Ihr Live-Konzert wird auch auf der öffentlichen Reeperbahn Festival-Streamingplattform übertragen.