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Lügen in der klassischen Musik Wie Bach die Kirche belog und die Schumanns schummelten

Auch Musik kann lügen: Das Davos Festival zeigt, wie im Werk von Bach & Co. gelogen und getrickst wurde.

Lügen gehört zur Sozialkompetenz. Der Mensch lügt am Tag im Durchschnitt 25 Mal. Aber nicht nur der Mensch, sondern auch die Musik kann lügen – die Musikgeschichte ist voll davon.

Was dabei als Lüge bezeichnet wird, kommt auf den Kontext an, auf die Erwartungen, welche die Zuhörenden an die Musik haben. Wird ihre Erwartung nicht erfüllt, kann man von einer bewussten Täuschung sprechen.

Wagner, der Trickser

Eine der berühmtesten Täuschungen der Musikgeschichte durchzieht die Oper «Tristan und Isolde» von Richard Wagner. Zu Beginn erklingt der sogenannte «Tristan-Akkord». Er ist harmonisch so gebaut, dass eine Spannung erzeugt wird, von der die Hörenden eine Auflösung erwarten.

Doch man wird getäuscht: Die erwartete Tonart folgt nicht auf den Tristan-Akkord. Die Musik geht anders weiter. Der Akkord durchzieht die gesamte Oper und steht als Sinnbild für das Liebespaar, das sich nicht lieben darf.

Erst zum Schluss der Oper, wenn Tristan und Isolde gestorben und im Tod vereint sind, wird der Akkord so aufgelöst, wie man es harmonisch erwartet.

Bach recycelt die Kantaten

Ein weiterer prominenter musikalischer Flunkerer ist Johann Sebastian Bach. In seiner Zeit als Kantor an der Thomaskirche in Leipzig musste er fast jeden Sonntag eine neue Kantate abliefern.

Unter Zeitdruck behalf er sich manchmal mit Musik, die er bereits für andere Zwecke komponiert hatte. So hat er etwa den berühmten Beginn des Weihnachtsoratoriums aus einer früheren Gratulations-Musik zweitverwertet.

Party-Mukke für die Messe

Das Pikante: Musik für den weltlichen Kontext wurde kurzerhand mit neuem Text in den geistlichen Kontext versetzt. Eine Geburtstagsparty am Hof wurde mit derselben Musik gefeiert wie die heilige Messe am ersten Weihnachtstag.

Dabei waren die beiden Welten in der Barockzeit streng getrennt. Hat Bach also geflunkert, wenn er mit der Musik auf den Text «Jauchzet, frohlocket, preiset die Tage» inbrünstigen Glauben demonstrieren wollte? Schliesslich hatte er nur er ein Jahr zuvor mit derselben Musik auf den Text «Tönet, ihr Pauken, erschallet, Trompeten» eine Gratulations-Musik für Maria Josepha aufgeführt, die Fürstin von Sachsen und Königin von Polen.

Spiel mit der Autorschaft

Mit den Erwartungen spielen auch Kompositionen mit Pseudonym. Über Jahrhunderte hinweg durften Frauen nicht als Komponistinnen in Erscheinung treten. Komponierten sie doch, mussten sie ihre Werke unter männlichem Pseudonym veröffentlichen, um überhaupt aufgeführt zu werden.

Selbst Clara Schumann, gefeierte Pianistin und Ehefrau des Komponisten Robert Schumann, hat 1841 einige ihrer Werke in einem gemeinsamen Band mit ihrem Mann herausgegeben: «Zwölf Gedichte aus Friedrich Rückert's «Liebesfrühling» für Gesang und Pianoforte von Robert und Clara Schumann».

Lange wusste niemand, wer von beiden welches Lied komponiert hatte. Erst die Forschung konnte Jahre nach dem Tod der beiden eine wahrscheinliche Zuordnung herstellen.

Zu ihren Lebzeiten hat das Ehepaar Schumann die Musikwelt bewusst getäuscht. So entzogen sie ihre Musik dem Urteil der Musikkritik, die damals aufgrund der Autorschaft Musik als männlich und kunstvoll oder als weiblich und schlicht bezeichnete.

Die Lüge der Schumanns beweist ihre Sozialkompetenz. Damit haben sie die diskriminierenden Vorurteile der Musikkritiker ad absurdum geführt. Wenn sie logen, dann nur, um sich gegen die Verlogenheit ihrer Zeit zu wehren.

Das Davos Festival «Young Artists in Concert»

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Das Davos Festival «Young Artists in Concert» steht in diesem Jahr unter dem Motto «Flunkern».

Intendant Marco Amherd hat dafür 23 Konzertprogramme zusammengestellt, die die verschiedenen Arten musikalischer Täuschung durchspielen: Musik von Frauen, die unter männlichem Pseudonym veröffentlichen mussten. Oder Musik, in der Komponisten von sich selbst oder den Werken von Kollegen abgeschrieben haben – als offene Ehrerbietung oder als kreative Weiterführung von musikalischer Inspiration.

Aufgeführt werden sie von jungen Musikerinnen und Musiker, die dank Stipendien während zweier Wochen in Davos leben und proben.

Das Festival findet noch bis am 20. August 2022 statt.

Radio SRF 2 Kultur, Künste im Gespräch, 11.08.2022, 09:05 Uhr

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