Jahrhundertelang berichteten Seeleute von Wasserwänden so hoch wie Paläste, die aus dem Nichts auftauchten und ganze Schiffe verschlangen. Hirngespinste von Verrückten, so dachte die Mehrheit der Menschen. In Wirklichkeit war es die Wissenschaft, die lange Zeit falsch lag.
Am 1. Januar 1995 registrierte die Plattform «Draupner» in der Nordsee eine Welle von 26 Metern in einem Meer mit durchschnittlichen Wellen von zwölf Metern. Seit diesem Tag gibt es keinen Zweifel: Monsterwellen existieren wirklich!
Erklärvideo von RSI zur Entstehung der Monsterwellen:
Sie sind keine Tsunamis. Tsunamis sind Wellen, die durch Erdbeben, Unterwasserlawinen oder Vulkanausbrüche entstehen. Sie haben enorme Wellenlängen, durchqueren den Ozean mit Höchstgeschwindigkeit und werden nur in Küstennähe verheerend. Monsterwellen hingegen sind kurze, plötzliche und lokale Ereignisse, die auf hoher See aus der Wechselwirkung zwischen Wind, Strömungen und Wellenzügen entstehen.
Die Regel, die sie von «normalen» Wellen unterscheidet, ist einfach: Eine Welle ist «anormal», wenn sie mindestens das Doppelte des gerade vorherrschenden Wellengangs erreicht.
Satelliten dokumentieren Extremereignisse
Der Stand der Kenntnisse über die Vorgänge auf dem Meer begann sich zu verbessern, als die Menschheit anfing, es von oben zu betrachten. Die Satellitenradare der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA) haben mit dem Projekt MaxWave extreme Ereignisse auf der ganzen Welt gezählt und lokalisiert. Was bis dahin als Ausnahme galt, verwandelte sich in ein häufigeres «operatives» Risiko. Handelsschiffe und Offshore-Strukturen mussten ihre Gefahrenkarten anpassen.
Dennoch bleibt der Ozean ein unvollkommenes Labor: Man kann das Experiment nicht wiederholen und auch nicht jede Variable kontrollieren. Aus diesem Grund benutzt die Wissenschaft Wellensimulationsbecken, die Dutzende Meter lang sind. Dort haben Physiker gezeigt, wie sich die Energie einer Wellengruppe plötzlich im Kamm einer einzigen Welle konzentrieren kann – ein Phänomen, das als «Modulationsinstabilität» bekannt ist.
«Es ist keine Magie, sondern Statistik»
Aber die offene See ist selten geordnet: Wellensysteme kreuzen sich, Strömungen drücken sich gegenseitig und der Riesenkamm wächst dort, wo man es am wenigsten erwartet. «In diesem Chaos entsteht manchmal die perfekte Kombination für eine Monsterwelle», sagt Francesco Fedele vom Georgia Institute of Technology gegenüber dem Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz (RSI).
Sein Team hat die grossen Stürme im Mittelmeer untersucht und herausgefunden: Wenn sich Wellen auf die «richtige» Weise überlagern, wird der Kamm höher und die Basis flacher und tiefer, wodurch eine normale Welle zu einem Koloss wird. Wie Fedele erläutert, «ist es keine Magie, sondern Statistik: Das Meer ist ein komplexes System, und wenn man unter extremen Bedingungen genügend Kilometer zurücklegt, begegnet man früher oder später der Welle, der man nicht begegnen möchte.»
Wissenschaftler sprechen von regelrechten «Hotspots» auf den Weltmeeren, wo Wellen und Strömungen aufeinandertreffen, wie die Strömung Agulhas vor Südafrika oder die Strömung Kuroshio in der Nähe Japans. Auch steile Küsten und Meeresböden, die rasch abfallen, zählen dazu. Mit dem Klimawandel und den intensiveren Stürmen wächst das Risiko nur noch.