Die Front ist nur wenige Kilometer entfernt. Die Strassen von Cherson werden ständig von russischen Geschossen getroffen. Kirill erwartet die Journalistin vom Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz (RSI) vor seinem Haus. Er ist 14 Jahre alt. Sechs Monate lang war er in einem russischen Umerziehungslager. Er ist einer der wenigen Minderjährigen, denen die Rückkehr gelungen ist.
«Bist du glücklich, wieder zu Hause zu sein?» Über unseren Köpfen sind die Geschosse der Artillerie zu hören. Es gibt weder Strom noch Wasser, und Kirill hat gelernt, anhand des Geräuschs die Art der ankommenden Geschosse zu unterscheiden. Wie alle seine Altersgenossen kann er nicht zur Schule gehen und sich nicht frei bewegen.
Kirill erzählt die Geschichte über seine Verschleppung
Nach der russischen Invasion von 2022 sind aus den besetzten ukrainischen Gebieten wie Cherson Kinder und Jugendliche verschwunden. Laut der ukrainischen Regierung sind rund 19'500 Kinder von Russland zwangsweise deportiert worden. Andere Untersuchungen, wie jene des Humanitarian Research Lab der Universität Yale in den USA, gehen von noch mehr verschleppten Kindern aus.
Erst 1700 Kinder sind zurückgekehrt
«Ich war dumm, ihn gehen zu lassen», sagt Olga, eine Grossmutter. Sie hat den Kontakt zu ihrem Enkel verloren, einem Waisenkind, für das sie allein sorgte. Die Besatzer boten Kindern Sommerlager auf der Krim an, unter dem Vorwand, ihnen eine Auszeit vom Krieg zu verschaffen. Viele von ihnen sind nie zurückgekehrt.
Bis heute konnte die Ukraine nur 1700 Kinder zurückholen – die Hälfte von ihnen dank der Bemühungen der Organisation Save Ukraine.
Während die Wände des Hauses unter den Einschlägen der Geschosse zittern, erzählt Kirill, wie er und die anderen verschleppten Kinder jeden Morgen die russische Hymne singen und die Flagge ehren mussten, wie sie gezwungen wurden zu lernen, dass die Ukrainer Nazis seien, und «die Reden über wichtige Dinge» zu verfolgen. Das gehörte zum obligatorischen «Patriotismus-Programm».
«Wir mussten Dankeskarten an die russischen Soldaten schreiben, weil sie uns befreit hatten», berichtet Veronika. Sie wurde ihrer Mutter in Charkiw entrissen. Jeder Rebellionsversuch wurde bestraft: «Sie haben mich in einem Raum festgehalten, bis sie sahen, dass sie mich moralisch gebrochen hatten.»
Russland spricht von «geretteten» Kindern
Der Zweck der Deportationen, der sich aus den dokumentierten Fällen ergibt, ist eine systematische «Russifizierung». Den Minderjährigen werden russische Sprache, Kultur und Staatsbürgerschaft aufgezwungen.
Wegen dieser Taten hat der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen Wladimir Putin und die Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa erlassen. Sie werden verantwortlich gemacht für das Kriegsverbrechen der «illegalen Deportation und Zwangsverschleppung von Kindern».
Russland leugnet diese Deportationen nicht einmal, sondern es bewirbt sie in seinen Propagandakanälen. Für die russische Regierung sind es keine entführten, sondern «gerettete» Kinder.
Die Kinder zurückzuholen wird immer schwieriger, weil Russland die Zwangserteilung von Pässen intensiviert und Adoptionen mit einem eigens dafür erlassenen Regierungsdekret erleichtert hat.