Im Nebensaal des prunkvollen Schauspielhauses im Herzen von Kiew herrscht gespannte Erwartung. Das Publikum ist gekommen, um Gedichten zu lauschen, die eine Gruppe Jugendlicher verfasst hat. Eine der jungen Frauen beginnt, Verse vorzutragen. Sie erzählt von der ersten Explosion am Morgen, als der Krieg begann. Wie sie eine Tasche mit dem Nötigsten packen musste, sich hinsetzte und zu weinen begann. Denn wie sollte ihr ganzes Leben in eine einzige Tasche passen?
Kunst-Laboratorium zur Verarbeitung
Die Gedichte sind in einem sogenannten Kunst-Laboratorium entstanden, einem Kurs, in dem Jugendliche unter Anleitung von Profis schreiben, malen oder einen Film drehen. Es ist ein Projekt der NGO «Golos ditej» – Stimme der Kinder. Der Journalist Azad Safarov hat das Hilfswerk zusammen mit seiner Frau gegründet.
Er sagt, das Ziel dieser Kurse sei, die Jugendlichen dazu zu bringen, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen: «Für Teenager ist es schwierig, über Gefühle zu sprechen.» Dort könnten sie ihren Schmerz zu Papier bringen. Ausserdem sässen sie zusammen und erzählten sich ihre Geschichten – nicht den Erwachsenen, sondern den Gleichaltrigen. «Das hilft ihnen, sich zu öffnen, und hat eine heilende Wirkung.»
Gegenseitige Unterstützung
Danach, so Safarov, blieben die Jugendlichen miteinander in Kontakt, in einer Chatgruppe zum Beispiel: «Sie unterstützen einander bei Luftangriffen, sie fragen: ‹Bist du ok?› Das hilft ihnen, aus ihrer Isolation zu kommen. Sie wissen, dass es Menschen gibt, denen sie wichtig sind.»
Der Krieg löst nicht nur riesige Ängste aus, er führt auch dazu, dass sich manche Kinder und Jugendliche verschliessen, schlecht schlafen, sich selbst verletzen. Die Zukunft scheint düster und ungewiss. Der Verlust der Freunde, weil die Familie flüchten musste, Online-Unterricht statt Präsenz an der Schule: Das führt zu sozialer Isolation. Bei manchen Jugendlichen kommen Gedanken an Suizid auf.
Das Hilfswerk hat eine Hotline eingerichtet, bei der sich Jugendliche melden können. Ausserdem beschäftigt es 70 Psychologinnen und Psychologen und 4 Psychiater, die in niederschwelligen Zentren tätig sind. Dort erhalten nicht nur Kinder, sondern auch die Eltern psychologische Hilfe.
«Wenn jemand schuld ist, dann Putin»
Manchmal hätten Kinder Schuldgefühle, wenn der Vater an der Front sei und sie in Sicherheit, sagt Safarov: «Sie beginnen, sich selbst zu verletzen, sie wissen nicht, wohin mit ihrer Aggression, Nutzlosigkeit und Hilflosigkeit, die sie empfinden. Dann müssen wir uns mit dem Kind hinsetzen und ihm sagen: ‹Es ist nicht dein Fehler. Wenn jemand schuld ist, dann Russland und Putin, aber nicht du.›»
Safarov sagt, es reiche nicht, humanitäre Hilfe zu leisten und den Kindern Spielzeug zu schenken. Man müsse sich mit ihnen hinsetzen, ihnen Raum geben und psychologische Hilfe anbieten. Entsprechende Angebote gebe es viel zu wenige. Er betont, dass jeder einzelne Kriegstag den Kindern schade. Man müsse ihnen helfen, diesen Krieg zu überstehen.
Denn das Ziel von Putin sei nicht nur, die Infrastruktur zu zerstören, sondern auch, die junge Generation zu beschädigen: «Er versucht, uns die Zukunft zu stehlen. Deshalb müssen wir alle unsere Anstrengungen darauf richten, der jungen Generation beizustehen.»