An der Kantonsschule Zürich Nord herrscht der «Ufzgi»-Frust. In einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» erklärt der Rektor, dass seine Schülerinnen und Schüler 14 Stunden pro Woche dafür aufbrächten. Das sei zu viel, habe eine Umfrage ergeben.
Die Aussagen bilden ein neues Kapitel in einem alten Streit. Wie viele Hausaufgaben sind gerechtfertigt? Ab wann ist es zu viel? Wer profitiert? Wer verliert? Hört man sich unter Expertinnen und Experten um, wird klar: Es handelt sich auch um Glaubensfragen.
Die «ewige» Diskussion um die Hausaufgaben
Gemäss Martin Keller, ehemaliger Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH), wurde schon immer über Sinn und Unsinn von Hausaufgaben gestritten. «Bereits vor über hundert Jahren beschwerten sich die Lehrer über zu viele Hausaufgaben.»
Der Kanton Schwyz ging 1993 sogar so weit, das Ende der Hausaufgaben auszurufen, nur um sie vier Jahre später wieder einzuführen. «Die Verantwortlichen hatten alle gegen sich: Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler und die Eltern», so Keller.
Der Experte, der vor seiner Tätigkeit in der Ausbildung von Fachpersonen selbst 16 Jahre lang an einer Sekundarschule unterrichtete, spricht darum von einem «ewig aktuellen Thema».
Lernwirksam wäre ein Auftrag wie der folgende: «Bringt alle eine Aufgabe samt Lösung mit, die in der nächsten Französisch-Prüfung vorkommen könnte.»
Klar sei, dass viele Hausaufgaben nicht hilfreich seien – ja sogar schädlich sein könnten. «Wenn ich meinen Schülerinnen und Schülern im Fremdsprachenunterricht sage ‹so und jetzt lernt auf nächste Woche die Vokabeln›, dann bringt das wenig.» Es fehlten häufig klare Ziele sowie Hilfen, wie gelernt werden soll. Lernwirksamer wäre ein Auftrag wie der folgende: «Bringt alle eine Aufgabe samt Lösung mit, die in der nächsten Französischprüfung vorkommen könnte.»
Das Volumen an Hausaufgaben sage schlussendlich nichts über die Qualität des Unterrichts aus. Auf den Stufen unterhalb des Gymnasiums sei dies schon länger bekannt. Dass nun auch im Gymnasium über Sinn und Unsinn von Hausaufgaben gesprochen werde, findet Keller «erfreulich».
Lebensschule und Pulsmesser gesellschaftlichen Wandels
Das Was ist also wichtiger als das Wie viel ? Bernhard Hauser ist da kritischer. «Es ist eine Binsenwahrheit; aber Übung macht nun mal den Meister.» In der Debatte um reduzierte Hausaufgaben sieht er nicht zuletzt eine Geringschätzung der Schülerinnen und Schüler. «Man traut den Kindern heute nicht mehr viel zu.»
Den Vorwurf «preussischer Härte» weist er dabei gleich selbst von sich. Hauser hat selbst auf unterschiedlichen Stufen unterrichtet. Heute ist er an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen tätig und amtet als Schulratspräsident der Gemeinde Sargans. Für die SP sitzt er zudem im Kantonsrat.
Wir sollten lieber bei Schülerinnen und Schülern ansetzen, die ein Selbstregulationsdefizit aufweisen.
Der Spezialist für frühkindliche Förderung bringt stattdessen eine andere Komponente in die Diskussion ein. Die Selbstregulation stelle eine massgebliche Grundkompetenz für das spätere Leben dar. Der Experte spricht auch von «exekutiven Funktionen». Es sei darum sinnvoller, an diesem Punkt anzusetzen und Schülerinnen und Schülern mit Defiziten in diesem Bereich zu helfen.
Dass die Herausforderungen für die Gymnasien nicht kleiner werden, bestätigt auch Michael Ruloff, Experte für die Sekundärstufe Zwei an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW): «Die Digitalisierung stellt die Schulen weiterhin vor grosse Herausforderungen – Stichwort ChatGPT.» In Zukunft werde die Frage, wie Hausaufgaben und deren Umfang definiert würden, noch wichtiger.
Was ist also die richtige Menge an Hausaufgaben? Martin Keller findet, man solle am besten die Schülerinnen und Schüler selbst fragen. «Das wäre doch eine super Hausaufgabe!»