Selten hat eine Doku über einen deutschsprachigen Musiker so eingeschlagen. «Babo: Die Haftbefehl-Story» erzählt, wie es Haftbefehl von der Strasse bis ganz nach oben in die Rap-Charts schaffte. Und dann so tief stürzte, wie man es sich kaum vorstellen kann. Seit Jahren leidet Haftbefehl, der eigentlich Aykut Anhan heisst, an einer schweren Kokainsucht. Sie hätte ihn fast das Leben gekostet. Der Kulturjournalist Julian Theilen erklärt, warum seine Geschichte so fasziniert.
SRF News: Zum Einstieg – was verbindet Sie persönlich mit Haftbefehl?
Haftbefehl war ein ganz fundamentaler Teil meiner Adoleszenz, meines Heranwachsens als junger Mann, der sich irgendwie in dieser Welt zurechtfinden muss. Diese Songs haben ein Lebensgefühl transportiert, das es so im Deutschrap vorher nicht gab. Wenn man die hört, hat man sofort das Gefühl, man könne die Welt erobern. Es war natürlich auch eine sehr maskuline Energie, die Haftbefehl transportiert hat.
Haftbefehl hat eine eigene Sprache erschaffen – eine Art ‹Ghetto-Esperanto›.
Und diese Doku – warum schlägt die jetzt so hohe Wellen?
Ich glaube, man kann Haftbefehl guten Gewissens als die grösste Sensation des Deutschraps bezeichnen. Der Rapper Marteria hat Haftbefehls Slang mal «Ghetto-Esperanto» genannt. Er hat eine Sprache geschaffen, die sich aus dem Arabischen, aus dem Französischen, aus dem Kurdischen, aus dem Türkischen bedient, und so eigentlich alle Subkultursprachen des postmigrantischen Milieus in Deutschland zusammengebracht. Damit hat Haftbefehl den Jugendlichen eine einzigartige Stimme gegeben. Übrigens auch Kindern mit einem bürgerlichen Hintergrund. Die haben es auch geschafft, ihre eigene Biografie mit seinen Songs zu verwischen und sich in Haftbefehls «Elendsbiografie» reinzudenken.
Autoren, die sonst über Schiller und Goethe schreiben, wollten mit Haftbefehl über Lyrik diskutieren.
Und warum fasziniert diese Geschichte auch die Kulturjournalistinnen und -journalisten und die Feuilletons? Könnte man nicht auch kritisch sagen: Vielleicht verstehen sie Haftbefehl einfach falsch?
Die Beziehung zwischen dem Feuilleton und Haftbefehl ist eine kuriose. Ich würde sagen, Haftbefehl ist überhaupt der Grund, warum ich im Feuilleton arbeiten kann. Es kam damals zu ganz absurden Szenen: Da sind klassische Autoren, die sonst über Schiller und Goethe geschrieben haben, nach Offenbach gefahren und wollten mit Haftbefehl, diesem rotzigen Strassenrapper, über Lyrik diskutieren. Eigentlich zum Totlachen. Aber Haftbefehl hat das Feuilleton aufgebrochen für die Strassenkultur, wofür ich sehr dankbar bin.
Die Realität, die Haftbefehl porträtiert, sollte auch in den klassischen Kulturteilen anerkannt werden.
Müsste es einer Gesellschaft nicht zu denken geben, dass hier eine Doku hochgejubelt wird von einem Menschen, der Gewalt verherrlicht, sie geradezu fetischisiert – und der auch als Vaterfigur immer wieder versagt?
Aus einer bürgerlichen Perspektive heraus könnte man sagen: Haftbefehl hat Gewalt verherrlicht und das sollte man nicht abbilden. Aber Haftbefehl porträtiert ein Milieu, das damals in Offenbach an der Tagesordnung war und es zum Teil wahrscheinlich auch immer noch ist. Ich fände es falsch, da wegzuschauen – und ich finde, dass diese Realität auch in den klassischen Kulturteilen anerkannt werden muss. Dazu gehört auch eine gewisse Ambivalenz. Haftbefehl ist ein abwesender Vater, er kokst sich fast zu Tode. Aber in dieser Doku sieht man auch liebevolle, zugewandte Seiten.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.