Was ist passiert? Aurora Ramazzotti, Model und Moderatorin, hat einen Shitstorm erlebt. Der Grund: Wie sie in einer Instagram-Story mitgeteilt hat, bekommt ihr zweieinhalbmonatiger Sohn jetzt das Fläschchen, die Künstlerin hat abgestillt.
Wie ist die Aufregung entstanden? Laut Anne-Laure Garcia, Soziologin an der Technischen Universität Dresden, hatte das Stillen schon vor Jahrhunderten eine gesellschaftliche Bedeutung. Und noch heute haben Volk und Politik eine Meinung zum Thema.
Wie war das früher? Früher hat man den Babys auch Tiermilch zum Trinken gegeben. Weil das sehr unhygienisch war, sind viele Kinder daran gestorben. Und als im 18. Jahrhundert ein Geburtenrückgang eingesetzt hatte, bemühten sich die Regierungen in Westeuropa, das Leben der Kinder zu retten. Laut Garcia rückten sie zu diesem Zweck die Figur der Mutter in den Fokus und machten sie verantwortlich für das Wohl der Kinder. «Das war der Moment, als gesagt wurde, dass die Frau, die das Kind getragen hat, das Kind selbst stillen soll – und dann so lange wie möglich stillen, um sein Leben zu retten.»
Wie sieht die Politik heute das Stillen? Das Motto, Stillen sei das Beste für ihr Baby, findet man noch heute in jeder Werbung für Schoppenmilch. Eine Pflicht, wie die Soziologin sagt. Das habe die WHO in den 70er-Jahren verordnet, weil in Afrika und Asien so viele Babys starben, die mit verseuchtem Wasser oder zu sehr verdünnter Milch schlecht oder mangelhaft ernährt worden waren.
Was kommt zu kurz? «Kinder, die nicht zu früh geboren wurden und kerngesund sind, erhalten dadurch keine so grosse Vorteile, wie die Bevölkerung sich das vorstellt.» Wegen der Botschaft der WHO würden andere Erkenntnisse nicht wahrgenommen und entsprechende Forschungen schlechter finanziert. Zum Beispiel, wenn sie die Qualität der Muttermilch untersuchten. Mütter, die in einer Stadt wohnten, haben laut Garcia über die Jahre auch sehr viele Schadstoffe in ihrem Körper. Und wenn sie stillten, könnten diese auch in die Muttermilch übergehen.
Wo entsteht Leid? Erst, wenn Frauen Beschwerden hätten, etwa Entzündungen an den Brustwarzen, oder Babys schlecht verdauten, werde entdeckt, was mit dem Stillen auch körperlich einhergeht. Die Frage, die man sich laut der Soziologin stellen muss, sei, ob die Gesundheit des Kindes wichtiger sei, als wie es der Mutter mit dem Stillen geht.
Die Beschwerden, die mit dem Stillen zusammenhängen, werden gar nicht thematisiert.
Wie ist die Situation in verschiedenen Ländern? In Frankreich gehe man anders mit dem Stillen um als in Deutschland. In Deutschland hätte die Hebamme gesagt: «Wenn Sie stillen, müssen Sie das und das beachten.» In Frankreich hätte die Hebamme dagegen gefragt: «Haben Sie vor, zu stillen?» Die Vorstellung, was eine gute Mutter sei, variiere also – und das Stillen sei ein Symbol dafür.
Wie sieht es in der Schweiz aus? Auch in der Schweiz besteht der Konsens, dass das Stillen, weil natürlich, das Beste sei. Das schlägt sich im Arbeitsrecht nieder: Am Arbeitsplatz bekommt man Pausen fürs Stillen. Aber es gibt keine Pausen für die Ernährung mit der Flasche.
Die Muttermilch wird naturalisiert, als ob sie ein magischer Saft sei.
Was macht die Stillpolitik mit den Geschlechterrollen? Die Schweizer Politik zementiert gemäss Garcia auch die Geschlechterrollen. So gebe es eine Studie, dass über das Stillen eine Retraditonalisierung der Arbeitsteilung stattfinde. «Sogar Paare, die sich als gleichberechtigt orientiert wahrnehmen, tendieren über das Stillen dazu, die Kompetenzen und Zuschreibungen zwischen Frauen und Männern zu naturalisieren.»
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