Der Gesang einer Gruppe von Frauen und Männern gleitet über den kleinen Hafen von Tahuata. Begleitet von Trommeln und Ukulelen, gekleidet in farbige Gewänder und geschmückt mit Blumen, begrüssen die Künstler im Licht der Nachmittagssonne die Gäste eines Kreuzfahrtschiffes. Wer ein Klischeebild eines Südseeparadieses sucht, findet es hier auf den Marquesas-Inseln von Französisch-Polynesien.
Doch es sind nicht nur die exotischen Klänge, die den Besuchern zeigen, wo sie angekommen sind. Spektakuläre Tätowierungen schmücken die Sänger – Frauen und Männer.
Nur schwarz, keine Farben, aber exakt gestochene, schematische Muster zieren grosse Teile ihrer Körper – schnurgerade Motive oder auch schwunghafte. «Jedes Symbol hat eine Bedeutung für uns», erklärt eine junge Frau. «Es zeigt, wo ich herkomme, wer meine Ahnen sind, es zeigt den Kreis des Lebens.»
Noch bis vor ein paar Jahrzehnten hätten Besucher Polynesiens (siehe Box) kaum je solche Tattoos gesehen, erklärt die gebürtige Schweizerin Heidy Baumgartner. Die Expertin für polynesische Felskunst lebt seit den achtziger Jahren in Tahiti. «Als ich hier angekommen bin, gab es kein einziges Tattoo.»
Tattoos als Form der Kommunikation
Dabei war das Tattoo über Jahrhunderte ein unverzichtbarer Bestandteil traditioneller Kultur und Religion unter den Völkern Polynesiens. Das Wort «Tattoo» stammt vom polynesischen Wort «tatau». Der britische Entdecker James Cook hatte den Begriff nach seiner Reise nach Polynesien im Jahr 1771 nach England gebracht. Ein tätowierter Tahitianer namens Ma'i begleitete Cook damals zurück nach London. Seither ist das Wort auch im Westen bekannt.
Da es in der polynesischen Kultur historisch keine Schrift gab, waren Tätowierungen eine wichtige Form der Kommunikation. Laut dem führenden amerikanischen Tattoo-Anthropologen Lars Krutak zeigten sie den sozialen Status des Trägers, die Geschlechtsreife, die Herkunft und den Rang einer Person. So waren in der traditionell sehr hierarchischen polynesischen Gesellschaft fast alle Erwachsenen tätowiert – ob in Samoa, Tonga oder die Maori im heutigen Neuseeland (Aotearoa).
Zwar unterscheiden sich die Tätowierungen von Inselkette zu Inselkette. Praktisch alle Völker aber glaubten, Tätowierungen seien «ein Geschenk des Himmels an die Menschheit», so Anthropologen. Auch die verwendeten Muster und ihre Platzierung am Körper galten als heilig und unterlagen strikten Regeln. So war das Anbringen von Tattoos immer auch mit «Tapu» belegt. Auch dieser Begriff, der im übertragenen Sinne «Verbot» bedeutet, hat seinen Weg in die westliche Welt gefunden – «Tabu».
So durften nur speziell ausgebildete Tätowierer die Tintenkunst anbringen. Kaum zu ertragende Schmerzen waren die Norm. In Samoa sei von jugendlichen Männern erwartet worden, dass sie sich – quasi als Übergangsritus zum Erwachsensein – «einer täglichen, über bis zu vier Monate dauernden Tätowierprozedur unterziehen», schreibt der Journalist Jonathan DeHart. Dabei sei ein mit Tinte versetzter Kamm oder eine Nadel aus Knochen buchstäblich unter die Haut gehämmert worden – ohne jegliche Betäubung.
Das Ende der Tradition des Tätowierens
Pascal Erhel Hatuuku passt kaum in den Sessel, so wuchtig ist der Mann gebaut. Mit hüftlangem Haar und einer prominenten Tätowierung auf dem rechten Bein verkörpert der gebürtige Marqueser das Bild eines polynesischen Kriegers. Der Experte für polynesische Kultur erzählt, wie die Tradition des Tätowierens mit der Ankunft christlicher Religion vor rund 150 bis 200 Jahren ein abruptes Ende fand. Christliche Missionare und der Vormarsch des katholischen Glaubens bis ins hinterste Tal und auf das kleinste Atoll brachten neue Werte und neue Verbote nach Polynesien.
Ein besonderer Dorn im Auge waren den Geistlichen aus fernen Landen die Nacktheit der Polynesierinnen und der freizügige Umgang mit der Sexualität. Mit dem Alten Testament kam auch das Verbot der absichtlichen Veränderung des Körpers in den Pazifik. «Gott – der katholische Gott, oder Jesus, wenn sie wollen – hätte den Menschen nicht mit einem Tattoo geschaffen», habe die Botschaft der weissen Priester geheissen, so Erhel Hatuuku. «Denn ein Mensch sei auch ohne Tätowierung schön», sage die Bibel.
Dieser Zustand hielt in unterschiedlichem Ausmass in weiten Teilen Polynesiens bis in die 1970er- und 1980er-Jahre an. Dann erlebten Tätowierungen eine kulturelle Wiedergeburt. «Zu diesem Zeitpunkt waren die alten Muster und Bedeutungen bereits völlig verloren», wird der Anthropologe und Filmemacher Jean-Philippe Joaquim zitiert. «Als die Menschen begannen, sich wieder Tätowierungen anzueignen, verwendeten sie Material, das von einigen deutschen und amerikanischen Wissenschaftlern aus dem 19. Jahrhundert dokumentiert und gesichert worden war.»
Wiedererwachen der Identität
Die Forscherin Heidy Baumgartner hat die «Wende» in den frühen 80er-Jahren miterlebt. «Es kam in Polynesien zu einem Wiederaufleben des Interesses an der eigenen Kultur», einem Wiedererwachen der Identität. «Tätowierungen waren die ersten Zeichen dieser Renaissance.» Seither wurde die Praxis wieder so populär, dass auf vielen Inseln im Pazifik ein grosser Teil der Erwachsenen eine Tätowierung tragen.
Pascal Erhel Hatuuku zeigt auf die Tätowierung auf seinem Bein. «Es ist wie ein Markierungszeichen für uns. Das Tattoo zeigt, dass man aus Polynesien stammt, aus Tahiti, Tuamotu oder aus Neuseeland.» Zudem kanalisiere eine Tätowierung «die Kraft, die aus der Umwelt kommt – der Tiere, der Pflanzen, der Landschaft».
Trotzdem: Gerade unter älteren Generationen sei die Warnung der Missionare noch spürbar, das Anbringen eines Tattoos sei ein Vergehen gegen Gott, gegen die Schöpfung. Für seine betagten Eltern etwa seien Tätowierungen «unsauber, weil sie den Körper verändern».
Solche Argumente hört man unter jüngeren Menschen kaum noch. Selbst Polynesier, die sich als gläubige Christen bezeichnen würden, tragen gerne ein traditionelles Tattoo. Denn nebst Kultur und Identität haben junge Menschen noch einen anderen Grund, sich ein Tattoo stechen zu lassen: Eitelkeit. Pascal Erhel: «Ein Grund ist die Ästhetik. Ein Tattoo ist einfach auch schön.»