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10 Jahre ägyptische Revolution Wo die Freiheit im Gefängnis sitzt

Vor zehn Jahren begann in Kairo die ägyptische Revolution. Sie fegte zwar Langzeitherrscher Mubarak vom Thron, doch inzwischen ist das Regime wieder stärker denn je.

Es war in den späten Abendstunden des 2. März 2015. Safaa Abdelhazim, ihr Ehemann Khaled Saddouma und ihre Söhne Ahmad und Abdelrahman waren bereits im Bett, als plötzlich Sicherheitskräfte die kleine Wohnung stürmten.

In den Tagen zuvor hatte es in Kairo kleinere Demonstrationen gegeben. Die Söhne Ahmad und Abdelrahman waren mitgelaufen. Sie waren damals 14 und 16 Jahre alt. Als das Regime sie abholte, tat es dies, als würde es schwerbewaffnete Terroristen jagen. «Da waren lauter Soldaten mit Masken. Sie hatten alle Sturmgewehre. Wir durften nichts sagen, uns nicht bewegen, nichts fragen.»

Zwei Monate lang wussten Vater Khaled und Mutter Safaa nicht, wohin das Regime ihre Söhne verschleppt hatte. Schliesslich fanden die Eltern die beiden: gefoltert, verletzt, gebrochen. «Abdulrahman haben sie die Hände mit dicken Stricken zusammengebunden. Dann haben sie den Strick über die Türe gezogen und ihn so aufgehängt.» Auch mit Elektroschocks seien sie gefoltert worden, erzählten die beiden Teenager ihren Eltern.

Als Kinder ins Gefängnis gesteckt

Das Regime warf den beiden Teenagern vor, Mitglieder einer Terrororganisation zu sein, illegal an Demonstrationen teilgenommen und Leute angegriffen zu haben. Ein Vorwurf vor Gericht lautete, die beiden seien an einem Anschlag auf ein Haus eines Richters beteiligt gewesen. Gewichtiger Haken an dem Vorwurf: Zum Zeitpunkt jenes Anschlags sassen die beiden bereits seit zwanzig Tagen im Gefängnis.

Doch den Richter kümmerte das nicht: Ahmed wurde zum Tod verurteilt, Abdelrahman zu 15 Jahren Gefängnis. Erst eine grossangelegte Protestaktion von Menschenrechtsorganisationen brachte das Regime dazu, die Todesstrafe von Ahmed ebenfalls auf 15 Jahre Gefängnis zu reduzieren.

«Wir verstehen nicht, weshalb all diese Kinder im Gefängnis sind.» Mutter Safaa schüttelt den Kopf. «Sie sitzen zusammen mit 16 Jugendlichen im Gefängnis. Nur vier davon sind älter als 18. Die anderen sind noch Kinder!»

Doch das Regime des ehemaligen Generals Abdel Fattah al-Sisi macht keinen Unterschied zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Verhaftet wird, wer auch immer sich gegen die Herrschaft der Militärs aufzulehnen wagt. Oder wer auch nur verdächtigt wird, dies zu tun.

Proteste gegen Langzeitherrscher Mubarak

«Die Repressionen sind schlimmer als alles, was ich bisher erlebt habe», sagt Laila Soueif. Und sie hat viel erlebt. Soueif ist Mathematikerin und Professorin an der Universität von Kairo. Mit 16 Jahren nahm sie an ihrer ersten politischen Demonstration teil. Später gründete sie eine Professorenbewegung zur Unabhängigkeit der ägyptischen Universitäten.

Sie heiratete den Menschenrechtsaktivisten und Anwalt Ahmad Seif el-Islam. Ihre drei Kinder sind in ganz Ägypten und in der aufmerksamen Welt bekannte Aktivistinnen: Mona und Sanaa Seif sowie Alaa Abd el-Fatah.

Alaa sitzt seit Jahren im Gefängnis, gerade hat Laila Soueif wieder einen Brief von ihm erhalten. «Briefe von meinem Sohn zu erhalten ist absolut lebenswichtig. Wenn ich keine Briefe erhalte, weiss ich nicht, wie es ihm im Gefängnis ergeht, ja, ob er überhaupt noch am Leben ist.»

Alaa war einer der führenden Köpfe der Protestbewegung rund um den Tahrir-Platz und auch später. Ich habe ihn damals oft getroffen, als ich selbst vier Jahre in Kairo gelebt habe.

Alaa Abd el-Fatah und Laila Soueif
Legende: Alaa Abd el-Fatah (M) und Laila Soueif (R) an einer Demonstration in Kairo. SRF

Damals, als Alaa an der Spitze von Protestzügen marschierte und zuerst gegen Hosni Mubarak, danach gegen die Generäle, dann gegen Mohammad Mursi und am Ende wieder gegen die Generäle protestierte.

Als General Al-Sisi 2013 in einem von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützten Militärcoup den unfähigen Islamisten-Präsidenten Mohammad Mursi stürzte und die Militärs die Macht wieder an sich rissen, wurde Alaa bald darauf verhaftet.

«Die Bedingungen sind schlimmer als alles, alles, alles was ich je gesehen habe.» Laila Soueif wiederholt den Satz ganz bewusst. «Es ist schlimmer als unter Mubarak, schlimmer als unter Sadat, schlimmer als unter Nasser.»

Dabei ist Dschamal Abdel Nasser (1918–1970) für viele Ägypter nach wie vor der Held, der das Land befreit hat. Nur stimmt das nicht. Er hat eine Militärdiktatur begründet, die bis heute an der Macht ist und die heute so brutal gegen alle vorgeht wie keine zuvor.

Militär verteidigt sein Wirtschaftsimperium

Das Militär kontrolliert alles und jeden im Land – auch die Wirtschaft. Wie viel der Wirtschaftsanteil der ägyptischen Armee genau beträgt, weiss zwar niemand. Aber das Militär baut Strassen, betreibt Tankstellen und eigene Supermärkte, in denen es eigene Spaghetti, eigenes Olivenöl oder eigenes Trinkwasser verkauft.

Jede Gefährdung der Macht der Generäle gefährdet auch ihr Wirtschaftsimperium. Und deshalb gehen die Militärs so gnadenlos gegen alle vor, die ihre Macht infrage stellen.

Laila Soueif zuckt mit den Schultern: «Eine besiegte Revolution wird immer viel mehr Unterdrückung erfahren, als vor der Revolution geherrscht hat. Das ist nur logisch, denn da war eine Revolution. Sie wurde besiegt, und nun versucht das Regime alles, um sicherzustellen, dass so etwas nicht wieder geschieht.»

Husni Mubarak im Gerichtssaal, seine beiden Söhne an seiner Seite
Legende: Hosni Mubarak (mit Sonnenbrille) mit seinen zwei Söhnen Dschamal (L) und Alaa (R) bei einer Gerichtsverhandlung im September 2013. Keystone

Dabei sei das, was 2011 in Kairo und in anderen Städten Ägyptens geschehen sei, noch nicht einmal eine geplante Revolution gewesen, sagt Laila Soueif: «Vor allem während der letzten zehn Jahre unter Mubaraks Herrschaft waren die Lebensumstände in Ägypten immer schlimmer geworden. Da war es nur natürlich, dass sich die Leute zu wehren begannen. Die Leute haben versucht, sich gegen das Regime und gegen die sich verschlechternden Lebensumstände zu wehren. Wenn Präsident Mubarak nicht so stur gewesen wäre und zum Beispiel den Innenminister entlassen oder seine Söhne ins Ausland geschickt hätte, dann wäre es nie zu einer Revolution gekommen.»

Aufstand auf dem Tahrir-Platz in Kairo

Aber Mubarak war stur, das Regime war stur, und so strömten die Ägypter am 25. Januar 2011 – auch unter dem Eindruck der erfolgreichen Revolution in Tunesien – auf die Strassen und Plätze von Kairo. Als das Regime sich weiterhin nicht bewegte, stürmten sie drei Tage später den Tahrir-Platz im Zentrum der Stadt und verliessen ihn nicht mehr, bis Langzeitherrscher Mubarak nach 30 Jahren auf dem Thron abtrat und die Stadt verliess.

Dass Mubarak nur ein Bauernopfer der Generäle gewesen war und die Armee ihn nur geopfert hatte, um die Macht zu erhalten, wollten viele Ägypter und auch viele Beobachter damals nicht sehen.

Polizisten stehen Zivilisten gegenüber
Legende: Zehntausende protestieren im Januar 2011 in Kairo gegen Präsident Hosni Mubarak. Keystone

«Niemand hatte eine Revolution geplant. Was die Leute vorhatten, war, das Regime unter Druck zu setzen, um Reformen zu erwirken», erklärt Laila Soueif. Doch die Revolution war geschehen, und die Bewegung wurde den Generälen so gefährlich, dass sie diese erst viele Strassenkämpfe und ein Jahr mit dem beispiellos inkompetenten Muslimbruder-Präsidenten Mohammad Mursi später endlich entscheidend schwächen und schliesslich besiegen konnten.

«Wir sind Tausende, die gleich denken»

Langsam dreht Laila Soueif den Brief ihres Sohnes Alaa in den Händen. «Wir sind in einer schwierigen Lage, ja. Aber es ist auch so, dass wir einander gefunden haben, und dass wir nach wie vor da sind. Wir sind Tausende, wenn nicht Millionen von Ägypterinnen und Ägyptern, die gemerkt haben, dass sie in gewissen Dingen gleich denken, über Demokratie zum Beispiel, oder über Menschenrechte. Das ist nicht nichts.»

Daran hält sich Laila Soueif, wenn sie an ihren Sohn Alaa im Gefängnis denkt. «Wir sind eine Massenbewegung. Wir sind zwar keine Mehrheit, wir sind nicht stark, wir haben keine politische Partei, um unsere Anliegen durchzusetzen. Aber wir sind eine Massenbewegung, die sich in ganz unterschiedlichen Arten immer wieder zeigt.» Und wenn es nur die Solidarität ist, die Laila und ihre Kinder erfahren, wenn auch sie wieder einmal verhaftet werden.

Tagesschau, 25.01.2021, 12:45 Uhr

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