Zehn Bomben in vier voll besetzten Zügen. Fast zeitgleich explodierten sie im morgendlichen Pendlerverkehr mitten in Madrid, genauer in und um den Bahnhof Atocha, um 7:39 Uhr und um 7:42 Uhr. Der «11-M», wie der 11. März im Land genannt wird, ist sowas wie Spaniens 9/11, eingebrannt ins kollektive Gedächtnis.
Alle wissen noch heute, wo sie waren, wie sie vom Attentat erfuhren, wie sie geschockt waren. Wie sie zu Hilfe eilten – es gab über 2000 Verletzte – oder ohnmächtig am Fernsehen die schrecklichen Bilder verfolgten. Und auch, wie sie sich fragten, ob der linke ETA-Terror tatsächlich wieder zugeschlagen habe, wie das die Minister der amtierenden konservativen Regierung am staatlichen Fernsehsender TVE behaupteten.
Oder ob nicht Islamisten es nun auch auf den europäischen Kontinent abgesehen hatten? Vielleicht als Vergeltung für Spaniens Teilnahme am völkerrechtswidrigen Irak-Krieg an der Seite der USA? Vermutungen, die auf ausländischen Sendern umgehend diskutiert wurden.
Sie erinnern sich auch, wie sie sich fragten, was das für die nur drei Tage später anstehenden Wahlen bedeutete: Wem sollten sie ihre Stimme geben? Der regierenden Volkspartei, die ihren Wahlkampf einmal mehr auf Angst vor Basken und linksextremistischen ETA-Terror ausgerichtet hatte – und vielleicht darum die islamistische Täter-These relativierte, negierte und im Staatsfernsehen gar zensurierte?
Alle wussten: Ein ETA-Anschlag würde der Volkspartei in die Karten spielen, ein Sieg an der Urne wäre auch Anerkennung für ihre Warnungen. Ein Islamisten-Anschlag dagegen würde der linken Opposition Stimmen bringen: Sie hatte sich gegen einen Irak-Einsatz ohne UNO-Mandat ausgesprochen.
Bekennerschreiben der Al-Kaida
Als kurz nach dem Anschlag ETA-nahe Basken bekräftigten, dass die ETA mit dem Attentat nichts zu tun habe, danach Al-Kaida auch noch ein Bekennerschreiben verfasste, war die Sache klar: Die Volkspartei verlor jede Glaubwürdigkeit und damit die Wahlen.
Was bleibt noch in Erinnerung? Natürlich, dass die Polizei den Tätern rasch auf die Spur kam, sich der Chefterrorist und seine Komplizen bei einer Razzia in einem Madrider Vorort drei Wochen später in die Luft jagten. Natürlich die Strafprozesse, die 29 Verurteilungen, die langen Gefängnisstrafen.
Grosse Anteilnahme und Solidarität
Natürlich aber auch die vielen physisch und psychisch Verletzten. Und natürlich, am stärksten, die Erinnerung an getötete geliebte Töchter, Väter, Arbeitskolleginnen, Brüder, Nachbarinnen, Kinder, Pendlerkollegen. Aber auch die Erinnerung an unbekannte Retter, an spontan zu Ambulanzen umfunktionierte Busse und Taxis, an Gratiseinsätze zahlreicher Psychiaterinnen und Psychologen, an sehr viel Solidarität in den schlimmsten Stunden.
Madrid und Spanien wissen: Terrorismus tötet, hinterlässt Schmerz, immer und überall. Vielleicht lautet ihre Reaktion gerade darum auch heute noch oft: ob linker, rechter oder dschihadistischer Terror – er kann uns nichts anhaben, wir lassen uns keine Angst einjagen, wir leben unser Leben.