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80 Jahre Nürnberger Prozesse Die Schuld der Nazis und die Schuld der Deutschen

Offiziere, Ärzte, Juristen: In Nürnberg wurden nicht nur die Verbrechen der NS-Elite verhandelt. Bis «Nie wieder» zum Leitmotiv der Bundesrepublik wurde, sollte es noch dauern.

Jetzt sitzen also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank.
Autor: Erich Kästner Als Prozessbeobachter für die Neue Zürcher Zeitung

Am 20. November 1945 blickt die Welt nach Nürnberg. Die bayerische Stadt liegt in Trümmern. Doch sie wird Schauplatz der bedeutendsten Gerichtsprozesse des Jahrhunderts: der Aufarbeitung der Menschheitsverbrechen der Nazis.

Der amerikanische Chefankläger Robert Jackson spricht von «gebrochenen Männern» auf der Anklagebank: «Man mag sich beim Anblick dieser armseligen Gestalten kaum die Macht vorstellen, mit der sie einst die Welt in Schrecken gehalten haben.»

Unvorstellbare Verbrechen

«Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig», heisst es im Akkord von den Führungsfiguren des NS-Regimes. Es ist das erste Mal, dass ein internationaler Militärgerichtshof Kriegsverbrechen aufarbeitet – und sie sprengen jede Vorstellungskraft. Darunter der Holocaust, die industrielle Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa.

Weniger in Erinnerung sind die Folgeprozesse in Nürnberg, die bis ins Jahr 1949 von amerikanischen Militärgerichten geführt wurden. Dabei ging es um die Schuld der breiten Bevölkerung – von Ärzten über Juristen bis hin zu Wirtschaftsvertretern.

«Der NS-Staat als solcher wurde als verbrecherisch betrachtet», sagt Alexa Stiller, Historikerin an der Universität Zürich. Es ging also darum, diejenigen zu verurteilen, die die mörderische Nazi-Ideologie in die Praxis umsetzten.

Anklage und Verteidigung entwickelten Erzählungen, die sich in der deutschen Gesellschaft verfestigten.
Autor: Alexa Stiller Historikerin an der Universität Zürich

Ein Beispiel: SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf. Er musste sich für den Massenmord an der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten der Sowjetunion verantworten. Auch Mediziner, die in Konzentrationslagern grausame Menschenexperimente durchführten, standen vor Gericht.

Die deutsche Ärzteschaft schickte Prozessbeobachter nach Nürnberg. «Aus ihrer Sicht handelte es sich nur um einzelne Schwarze Schafe – was so nicht stimmte», sagt Stiller.

Ziel der Nachfolgeprozesse war auch, die deutsche Gesellschaft mit in die Verantwortung zu nehmen. Die Schuld sollte nicht einfach an die NS-Elite delegiert werden können. Die Bilanz fällt gemischt aus. «Anklage und Verteidigung entwickelten Erzählungen, die sich in der deutschen Gesellschaft verfestigten», erklärt Stiller.

Die Verbrechen der anderen

Gerade die «Entschuldigungsnarrative» der Verteidiger und Angeklagten seien auf fruchtbaren Boden gefallen: Die «weisse Weste der Wehrmacht», in Abgrenzung zu den SS-Schergen. Beamte, die sich einem totalitären Regime fügen mussten. Unternehmen, die nicht anders konnten, als Zwangsarbeiter zu beschäftigen.

Dazu schwand die Bereitschaft in der Bevölkerung, sich mit den jahrelangen Prozessen auseinanderzusetzen. «Der Kalte Krieg zog bereits herauf. Man wollte den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Verbrechen hinter sich lassen», sagt Stiller.

Was bleibt?

Die Nürnberger Prozesse werden im Rückblick teils kritisiert, weil Siegermächte über Kriegsverlierer urteilten. Trotzdem seien die Verfahren ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung des Völkerrechtsstrafrechts gewesen, schliesst die Historikerin.

Und: «Am Internationalen Strafgerichtshof können nun auch Verbrechen aller Kriegsparteien behandelt werden – zumindest in der Theorie.» Praktisch bleibt es jedoch ein weiter Weg, bis sich die Mächtigen dem Recht fügen müssen. Und nicht umgekehrt.

SRF 4 News, 20.11.2025, 6:09 Uhr ; 

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