Jetzt sitzen also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank.
Am 20. November 1945 blickt die Welt nach Nürnberg. Die bayerische Stadt liegt in Trümmern. Doch sie wird Schauplatz der bedeutendsten Gerichtsprozesse des Jahrhunderts: der Aufarbeitung der Menschheitsverbrechen der Nazis.
Der amerikanische Chefankläger Robert Jackson spricht von «gebrochenen Männern» auf der Anklagebank: «Man mag sich beim Anblick dieser armseligen Gestalten kaum die Macht vorstellen, mit der sie einst die Welt in Schrecken gehalten haben.»
Unvorstellbare Verbrechen
«Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig», heisst es im Akkord von den Führungsfiguren des NS-Regimes. Es ist das erste Mal, dass ein internationaler Militärgerichtshof Kriegsverbrechen aufarbeitet – und sie sprengen jede Vorstellungskraft. Darunter der Holocaust, die industrielle Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa.
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Bild 1 von 4. Im Saal 600 – bis vor wenigen Jahren noch immer als Gerichtssaal für Strafprozesse genutzt, tagte monatelang das Tribunal, im benachbarten Zellengefängnis sass die Nazi-Prominenz ein. Bildquelle: Keystone/Photopress Archiv.
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Bild 2 von 4. Auf der Anklagebank sass die Nazi-Elite. Darunter Herrmann Göring (links) und Rudolf Hess (Mitte). Am Ende wurden zwölf der Angeklagten zum Tode verurteilt, sieben zu Freiheisstrafen und drei freigesprochen. Bildquelle: Keystone/Photopress Archiv.
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Bild 3 von 4. Der ehemalige Reichsmarschall Göring war der hochrangigste der 24 Vertreter des NS-Regimes vor Gericht. Er entzog sich der Todesstrafe durch Suizid in seiner Gefängniszelle. Bildquelle: Keystone/Photopress Archiv.
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Bild 4 von 4. Adolf Hitler (Mitte), Joseph Goebbels (links) oder Heinrich Himmler konnten nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Sie hatten sich schon mit Kriegsende das Leben genommen. Bildquelle: Getty Images/Archiv.
Weniger in Erinnerung sind die Folgeprozesse in Nürnberg, die bis ins Jahr 1949 von amerikanischen Militärgerichten geführt wurden. Dabei ging es um die Schuld der breiten Bevölkerung – von Ärzten über Juristen bis hin zu Wirtschaftsvertretern.
«Der NS-Staat als solcher wurde als verbrecherisch betrachtet», sagt Alexa Stiller, Historikerin an der Universität Zürich. Es ging also darum, diejenigen zu verurteilen, die die mörderische Nazi-Ideologie in die Praxis umsetzten.
Anklage und Verteidigung entwickelten Erzählungen, die sich in der deutschen Gesellschaft verfestigten.
Ein Beispiel: SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf. Er musste sich für den Massenmord an der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten der Sowjetunion verantworten. Auch Mediziner, die in Konzentrationslagern grausame Menschenexperimente durchführten, standen vor Gericht.
Die deutsche Ärzteschaft schickte Prozessbeobachter nach Nürnberg. «Aus ihrer Sicht handelte es sich nur um einzelne Schwarze Schafe – was so nicht stimmte», sagt Stiller.
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Bild 1 von 3. Unter seiner Führung seien 90'000 Menschen liquidiert worden, sagte Ohlendorf im «Einsatzgruppen-Prozess»: «Es war ja Befehl, dass die jüdische Bevölkerung total ausgerottet werden sollte.» . Bildquelle: Imago/United Archives Internatioal.
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Bild 2 von 3. Nur eines der vielen «Experimente»: Giftinjektionen direkt ins Herz – und mit der Stoppuhr die Zeit bis zum Tod messen. Bild: Der Tropenmediziner Claus Schilling. Auf seiner Forschungsstation im KZ Dachau wurde mit Krankheitserregern experimentiert – Hunderte Menschen starben. Er wurde wie Ohlendorf zum Tode verurteilt und hingerichtet. Bildquelle: Getty Images/Heritage Images.
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Bild 3 von 3. Der Sadismus der Wissenschaftler kannte keine Grenzen: Operationen ohne Narkose, die Entnahme lebenswichtiger Organe, zwangsweise Verabreichung von Meerwasser, Überdruck- und Unterkühlungsversuche. Bildquelle: Getty Images (Archiv).
Ziel der Nachfolgeprozesse war auch, die deutsche Gesellschaft mit in die Verantwortung zu nehmen. Die Schuld sollte nicht einfach an die NS-Elite delegiert werden können. Die Bilanz fällt gemischt aus. «Anklage und Verteidigung entwickelten Erzählungen, die sich in der deutschen Gesellschaft verfestigten», erklärt Stiller.
Die Verbrechen der anderen
Gerade die «Entschuldigungsnarrative» der Verteidiger und Angeklagten seien auf fruchtbaren Boden gefallen: Die «weisse Weste der Wehrmacht», in Abgrenzung zu den SS-Schergen. Beamte, die sich einem totalitären Regime fügen mussten. Unternehmen, die nicht anders konnten, als Zwangsarbeiter zu beschäftigen.
Dazu schwand die Bereitschaft in der Bevölkerung, sich mit den jahrelangen Prozessen auseinanderzusetzen. «Der Kalte Krieg zog bereits herauf. Man wollte den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Verbrechen hinter sich lassen», sagt Stiller.
Was bleibt?
Die Nürnberger Prozesse werden im Rückblick teils kritisiert, weil Siegermächte über Kriegsverlierer urteilten. Trotzdem seien die Verfahren ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung des Völkerrechtsstrafrechts gewesen, schliesst die Historikerin.
Und: «Am Internationalen Strafgerichtshof können nun auch Verbrechen aller Kriegsparteien behandelt werden – zumindest in der Theorie.» Praktisch bleibt es jedoch ein weiter Weg, bis sich die Mächtigen dem Recht fügen müssen. Und nicht umgekehrt.