Viele gut ausgebildete Chinesinnen und Chinesen verlassen derzeit ihr Land. Bis Ende September haben rund 310'000 Personen China verlassen. Vermehrt wandern sie auch nach Europa und nicht nur in die USA aus. Ralph Weber, Professor der Universität Basel, ordnet die Abwanderung ein.
SRF News: Wieso wandern derzeit viele Chinesinnen aus?
Ralph Weber: Das hat verschiedene Gründe. Viele dürften aufgrund der weniger guten wirtschaftlichen Aussichten ernüchtert sein. Die harsche Corona-Politik hat dies verschärft. Die Ernüchterung treibt viele dazu, sich neu zu orientieren.
In diesen Kreisen wurde es von vielen nicht goutiert, dass sich Xi Jinping zum Herrscher auf Lebzeiten gemacht hat.
Bereits in den 1990er-Jahren gab es vor allem bei der ländlichen Bevölkerung eine Abwanderungswelle. Wieso gehen jetzt die gut ausgebildeten Chinesen?
Gerade diese Schicht der Bevölkerung hat eigentlich vom chinesischen Aufstieg sehr stark profitiert. Sie hatten gute, spannende und anspruchsvolle Jobs. Mit der autoritären Politik während der Corona-Pandemie und Xi Jinping, der teilweise totalitäre Tendenzen zeigt, wurde die Schicht frustrierter. In diesen Kreisen wurde es von vielen nicht goutiert, dass sich Xi Jinping zum Herrscher auf Lebzeiten gemacht hat. Des Weiteren sind sie durch Auslandsaufenthalte weniger anfällig für Propaganda. So erstaunt der Wille zum Auswandern bei den gut ausgebildeten Chinesinnen nicht.
Früher sind viele Chinesinnen und Chinesen in die USA ausgewandert. Nun bevorzugen sie aber andere, auch europäische, Länder. Warum diese Entwicklung?
Europa hat eine weltpolitische Mittelstellung. Der geopolitische Konflikt spielt sich zwischen den USA und China ab. Die USA fahren zudem eine harsche China-Politik. Ab November 2018 wurden im Zuge der «China-Initiative» viele chinesische Forscher und Arbeiterinnen in der Wirtschaft wegen Spionage angeklagt, obschon sich die Vorwürfe danach nicht erhärteten. Auch wenn die «China-Initiative» im Februar 2022 beendet wurde, fühlen sich einige Chinesinnen und Chinesen in den USA nicht mehr wohl. Zudem ist es schwerer, ein Visum für die USA zu erhalten.
Es trifft China, dass nun sehr gut qualifizierte Leute abwandern.
Was bedeutet es für China, wenn jetzt so viele gut Ausgebildete auswandern?
Es ist ein Symptom für den Zustand der Volksrepublik China. Die Stimmung ist nicht gut, und es wird in privaten Gesprächen sehr viel Kritik an Xi Jinping geäussert. Es trifft China, dass nun sehr gut qualifizierte Leute abwandern. Über Jahrzehnte war es für das Land wichtig, technologisches und wissenschaftliches Wissen anzuhäufen, um die Nation auf eine nächste Stufe zu katapultieren. Die Abwanderung der bis September rund 310'000 Personen muss aber auch relativiert werden. Im Land leben rund 1,4 Milliarden Menschen. Da sich die Zahl aber aus hochqualifizierten Leuten zusammensetzt, ist die Abwanderung bemerkenswert und bedeutsam.
China ist für den wirtschaftlichen Fortschritt auf diese gut ausgebildeten Arbeitskräfte angewiesen. Was macht denn die Regierung, um die Abwanderung zu verhindern?
Die Regierung wird das beobachten und wenn nötig Massnahmen ergreifen. Sie hat dazu eine Palette von Massnahmen. Man darf nicht vergessen, dass man in China nicht so einfach zu einem Pass kommt. Da könnte der Staat die Schrauben anziehen. Strengere Massnahmen sind zu befürchten.
Das Gespräch führte Nicole Roos.