Der leblose Körper der jungen Frau wird in den frühen Morgenstunden des vergangenen Freitags in einem Seminarraum gefunden. Die 31-jährige Ärztin hatte sich dort ausruhen wollen nach einer langen Nachtschicht im R.G. Kar Medical College and Hospital in Kalkutta im Südosten Indiens.
Keine funktionierenden Kameras oder Kontrollen
Ruheräume für das Gesundheitspersonal gibt es in dem öffentlichen Spital nicht, trotz langer Schichten, die bis zu 48 Stunden dauern können. Und auch keine Sicherheitsmassnahmen – keine Eingangskontrollen, keine funktionierenden Überwachungskameras. Niemand hinderte den oder die Mörder daran, das Spital zu betreten und die grauenhafte Tat zu vollbringen.
Der Autopsiebericht listete später zehn Verletzungen auf, darunter Blutungen in der Vagina, in beiden Augen, im Mund. Unter den Fingernägeln des Opfers fanden sich blutige Hautspuren. Sie muss sich heftig gewehrt haben, bevor sie starb.
«Dieser herzzerreissende Vorfall wirft ein Schlaglicht auf die eklatanten Sicherheitsmängel in unseren medizinischen Einrichtungen im ganzen Land», schrieb der Ärzteverband Federation of Resident Doctors Association of India in einer Stellungnahme auf der Plattform X. Einer Umfrage zufolge sind schon drei Viertel der indischen Mediziner Opfer von Gewalt geworden. Oft sind die Täter Angehörige.
Als Reaktion auf den Mord an ihrer Kollegin legten inzwischen rund 30'000 Ärztinnen und Ärzte ihre Arbeit nieder. Erst in Kalkutta, später auch im Rest Indiens. In vielen öffentlichen Spitälern sind nur noch die Notaufnahmen geöffnet.
Ineffiziente Gesetze
Die Demonstrierenden verlangen eine lückenlose Aufklärung des Mordes und einen besseren Schutz des Gesundheitspersonals. Ein Entwurf für ein entsprechendes Gesetz ist seit fünf Jahren hängig. Doch die hindu-nationalistische Regierung Indiens sah bisher keine Notwendigkeit, den Entwurf umzusetzen.
In den meisten der 28 indischen Bundesstaaten gibt es zwar schon Gesetze, die Ärztinnen und Pfleger besser schützen sollen. Sie gelten aber als ineffizient.
Auch das Spital-Management in Kalkutta kannte die Missstände, hat aber nicht reagiert. Sie hatte nach dem Mord an der jungen Ärztin nicht einmal Anzeige erstattet. Stattdessen erhielten die Eltern des Opfers einen Anruf von der lokalen Polizei: Ihre Tochter habe nach Depressionen Selbstmord begangen. Der Zugang zu ihrer Leiche wurde ihnen stundenlang verwehrt. Erst, als die Eltern Druck machten, kam es zur Anzeige.
Klinikchef erntet Kritik – und einen neuen Job
Das oberste Gericht in Kalkutta ordnete inzwischen an, dass die Aufklärung den nationalen Behörden übertragen wird, um eine unabhängige Untersuchung zu garantieren – was nicht oft vorkommt. Das Gericht sparte nicht mit Kritik am Klinikchef. Dieser trat nach öffentlichem Druck inzwischen zurück. Nur Stunden später übernahm er die Leitung eines anderen Spitals.
Der Mord an der jungen Ärztin weckt Erinnerungen an die Massenvergewaltigung und den anschliessenden Tod einer jungen Frau 2012 in Delhi. Die Tat sorgte weltweit für Empörung. Auch wenn die Politik danach Verbesserungen zum Schutz von Frauen gegen sexuelle Gewalt versprochen hatte – sicher sind sie noch lange nicht.