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Afghanistan unter den Taliban «Was Talibanführer Achundsada sagt, ist praktisch gesetzt»

Allen Versprechen zum Trotz erlassen die Taliban in Afghanistan immer mehr Einschränkungen für Frauen und Mädchen. Sie haben nun auch entschieden, dass die Scharia wieder vermehrt durchgesetzt werden soll. Was das für die Menschen im Land bedeutet, erklärt der Südasien-Korrespondent der ARD, Peter Hornung, im Interview.

Peter Hornung

ARD-Südasien-Korrespondent

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Aufgewachsen in Heidelberg, hat Peter Hornung in Wien und Regensburg Politik und Geschichte studiert und in Mainz Journalismus. Journalistische Erfahrungen macht er bei verschiedenen Sendern der ARD und war seit 2009 im Reporterpool von NDR Info. Seit 2021 ist Hornung Südasien-Korrespondent und Leiter des ARD-Hörfunkstudios in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi.

SRF News: Was bedeutet es, wenn in Afghanistan die Scharia strikt umgesetzt wird?

Peter Hornung: Es geht vor allem um den Vollzug von Strafen. Die Scharia selbst gilt schon seit der Machtübernahme der Taliban. Dass Dieben die Hand amputiert wird, Ehebrecher gesteinigt werden, Mörder gehängt werden, das ist für uns im Westen tiefes Mittelalter. Aber das soll nun konsequent durchgeführt werden. Ich war in einem Schariagericht dieses Jahr in Herat im Osten Afghanistans und habe mit dem Obersten Richter gesprochen.

In den vergangenen Monaten sind offenbar Todesurteile vollstreckt worden, das wird in sozialen Medien dokumentiert.

Er sagte: «Wir amputieren noch keine Hände, auch wenn solche Urteile ergehen, weil wir noch nicht die medizinischen Möglichkeiten dafür haben.» Die Delinquenten sollten die Strafe ja überleben. In den vergangenen Monaten sind offenbar Todesurteile vollstreckt worden, das wird in sozialen Medien dokumentiert. Nun soll das offenbar konsequent im ganzen Land umgesetzt werden.

Eine Gruppe Männer feiert den Jahrestag der Machtübernahme der Taliban
Legende: In Kandahar wurde im August die einjährige Machtergreifung der Taliban gefeiert – unter Männern. Imago/Ubi/ShekibxMohammady

Was heisst das beispielsweise für die Frauenrechte?

Dieser Staat scheint sich nach innen mehr und mehr zu einem Terrorstaat gegen die eigene Bevölkerung zu entwickeln. Wer nicht pariert, der wird hart bestraft. Die Einschränkungen werden von Monat zu Monat mehr und gelten vor allem für Frauen. Schülerinnen höherer Klassen dürfen in vielen Landesteilen seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 nicht zur Schule.

Am Flughafen in Kabul werden Frauen daran gehindert, ins Ausland zu fliegen.

Frauen dürfen nicht ohne männlichen Wächter reisen. Am Flughafen in Kabul werden zum Beispiel Frauen daran gehindert, ins Ausland zu fliegen. Vergangene Woche hiess es dann, dass Frauen nicht mehr in öffentliche Parks dürfen und auch nicht ins Sportstudio, selbst wenn die nur von Frauen geführt werden.

Wie reagieren die Leute auf diese Unterdrückung?

Sie wollen das Land verlassen. «Das ist kein Land mehr für mich und meine Familie, vor allen Dingen nicht für meine Töchter», sagen sie nun. Es sind diejenigen Personen, die mir vor einigen Monaten noch gesagt haben, dass sie erstmal in Afghanistan bleiben und abwarten wollen, wie es sich entwickelt. Die wollen nur noch raus, und zwar so schnell wie möglich. Es sind viele, 10’000 oder auch 100'000.

Die Taliban haben bei der Machtübernahme versprochen, sie würden gemässigt regieren. War das nur Propaganda oder haben einfach die Hardliner die Oberhand gewonnen?

Letzteres. Aber man kann über die Machtstruktur der Taliban keine abschliessenden Aussagen treffen, weil sie so undurchsichtig ist.

Die jüngsten Verlautbarungen – Stichwort Durchsetzung der Scharia, Einschränkung der Freiheit der Frauen – stammen vom Talibanführer Hibatullah Achundsada.

Man weiss viel aus der Geschichte und man kennt ungefähr die Gruppen. Aber was jetzt gerade vor sich geht, ist schwer zu sagen. Die jüngsten Verlautbarungen – Stichwort Durchsetzung der Scharia, Einschränkung der Freiheit der Frauen – stammen vom Talibanführer Hibatullah Achundsada. Was der sagt, ist praktisch gesetzt. Er tritt nur sehr selten auf, zuletzt ist er vor ein paar Monaten bei einer Versammlung in Kabul aufgetreten. Achundsada ist nicht in Kabul, sondern in Kandahar. In Kabul gibt es die gemässigteren Taliban. Aber es setzen sich immer die Hardliner durch.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

SRF 4 News, 17.11.2011, 06:45 Uhr ; 

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