Der traurige Beweis dafür, wie gefährlich die Lage in Afghanistan ist, kommt ganz zum Schluss. Wir sitzen in der Parkanlage des alten Königspalastes von Kabul. Präsident Ashraf Ghani ist erst wenige Minuten zuvor aus dem Palast, der heute sein Amtssitz ist, aufgebrochen. Auf dem Stuhl vor uns sitzt Hamdullah Mohib, der Nationale Sicherheitsberater Afghanistans.
Eine halbe Stunde lang haben wir über die Lage im Land gesprochen: über die Taliban, die Uneinigkeit der Regierung, die Fehler der Amerikaner. Dann, gerade als Mohib als eine der letzten Antworten über seine Träume für dieses so wunderschöne wie verwundete Land berichtet, passiert es: Irgendwo in der Stadt explodiert eine Bombe. Und kurz darauf eine zweite.
Wir sind ein Land im Krieg.
Die Explosionen sind bis in den Garten des Präsidenten hörbar. Genauso wie das Knattern der Helikopter, die kurz darauf aufsteigen. «Das ist leider die Realität in Afghanistan.» Hamdullah Mohib zuckt kaum mit den Wimpern. Zu gewohnt sind die Einwohner von Kabul die tägliche Gewalt, als dass sie ein Doppelanschlag aus der Fassung bringen würde. «Wir sind ein Land im Krieg», sagt Mohib. Dass die Bomben beide ins Leere treffen und niemand getötet wird, ist die einzige gute Nachricht an diesem Tag.
Hamdullah Mohib ist keiner jener alten Mujahedin-Kommandanten, die wir früher häufig in Kabul getroffen haben. Mohib gehört zur jungen Generation der afghanischen Elite. Sein eloquentes Englisch ist amerikanisch gefärbt, einen Teil seiner steilen Karriere hat er in Washington, D.C. verbracht. Er war Botschafter in jenem Land, dessen Truppen seit 20 Jahren in seinem Heimatland stationiert sind – in einem Krieg, der als der längste Krieg Amerikas gilt, und den die USA nun so überhastet beenden wollen, koste es, was es wolle.
Es kostet vor allem Sicherheit für die vielen Afghaninnen und Afghanen, die nicht unter den Taliban leben wollen. «Wir können weder das Denken der Taliban kontrollieren noch haben wir Einfluss auf ihr Handeln. Alles, was wir tun können, ist vorbereitet sein auf das, was kommt.» Leider, das weiss auch Hamdullah Mohib genau, ist es absehbar, dass dies vor allem zusätzliche Gewalt sein wird. «Sie werden den Konflikt intensivieren, ja», sagt Mohib. Eine Viertelstunde später explodieren in der Stadt die Bomben.
Die Afghaninnen und Afghanen haben gelernt, mit der alltäglichen Gewalt umzugehen. An sie gewöhnen wollen sie sich trotzdem nicht. Wir gehen auf einen der vielen Basare in der Stadt. Ausländer sind hier selten anzutreffen, entsprechend werden wir sofort umringt. Hajji Lal Zer verkauft Schuhe auf einem klapprigen Stand. Lal Zer ist ein älterer Mann, sein Gesicht erzählt von Mühsal und Entbehrungen. «Wir hoffen, dass es bald eine islamische Regierung gibt, die Frieden mit sich bringt.»
Wie viele hier ist Hajji Lal Zer bereit, die Taliban zumindest teilweise an der Macht zu dulden, wenn nur das Töten ein Ende nimmt: «Es ist doch ganz einfach: Die Menschen, die auf beiden Seiten dieses Konflikts sterben, sind Afghanen. Das macht uns traurig. Deshalb hoffen wir, dass wir bald Frieden schliessen können, damit dieses Sterben aufhört.»
Auch der Nationale Sicherheitsberater im Präsidentenpalast weiss, dass die Taliban in ein zukünftiges afghanisches Regierungskonstrukt eingebunden werden müssen. Nur wie, weiss auch er nicht: «Die Taliban sind eine Realität in Afghanistan. Aber sie sind nicht die einzige Realität. Es gibt andere Realitäten in diesem Land, welche abgebildet sind in der Republik, die wir heute sind.»
Das Problem ist, dass die Taliban diese Republik ablehnen – exakt jene Institutionen, in welche sie eingebunden werden müssten, soll dieses Land je zum Frieden finden. «Die Taliban haben ganz offensichtlich eine Anhängerschaft, welche in der Republik vertreten sein muss. Aber wir müssen ihnen klarmachen, dass in diesem Land heute alle eine Stimme haben, und dass sie das respektieren müssen.»
Dass die Taliban dafür offene Ohren haben, glaubt Hamdullah Mohib nicht: «Die Taliban gehen gerade durch eine Phase der Arroganz. Sie glauben, dass sie die Streitmacht der Vereinigten Staaten von Amerika geschlagen hätten. Dass sie selbst nun eine Supermacht seien.» Mohib zuckt mit den Schultern. «Es wird einige Zeit dauern, bis die Taliban verstehen, was wirklich geschieht. Erst dann werden wir effektiv mit ihnen verhandeln können.»
Die Taliban strotzen vor Selbstbewusstsein
Dass der frühere US-Präsident Donald Trump direkt mit den Taliban verhandeln liess und die afghanische Regierung dabei aussen vorliess, hat sich bereits als grosser Bumerang erwiesen. Die Taliban strotzen vor Selbstbewusstsein. Auf Verhandlungen mit der Regierungsseite wollen sie sich nicht wirklich einlassen. Die letzte Verhandlungsrunde, die Trumps Nachfolger Joe Biden in Istanbul auf die Beine stellen wollte, um den Verlauf der amerikanischen Flucht aus Afghanistan wenigstens teilweise zu korrigieren, haben die Taliban abgelehnt.
Ob sie in einem weiteren Anlauf an den Tisch gebracht werden können, ist höchst ungewiss. Zumindest Teile der Taliban gehen offensichtlich davon aus, dass sie den Konflikt militärisch entscheiden können. Und dass sie die Macht gänzlich an sich reissen können.
Besuch beim Ex-Taliban-Kommandanten
Wir fahren in den berüchtigten fünften Distrikt von Kabul – dorthin, wo vorwiegend Paschtunen leben. Das ist die Bevölkerungsgruppe, aus denen die Taliban hauptsächlich hervorgegangen sind. Hier, unter Stammesbrüdern, verstecken sich immer wieder Al-Kaida- oder IS-Mitglieder. Wir besuchen Sayyed Mohammad Akbar Agha.
Sayyed Akbar Agha ist ein ehemaliger Taliban-Kommandant, er befehligte die berüchtigten «Jaish-al-Muslimeen», die «Armee der Muslime». Heute hat er den Taliban offiziell abgeschworen und leitet einen sogenannten «Rat der Erlösung».
Doch auch wenn er sich von den Taliban distanziert – die Hauptschuld für die afghanische Misere sieht er bei der Regierung: «Es ist die Wahrheit, dass die Leute sagen, die Regierung sei an der heutigen Lage schuld. Die Regierung nennt sich Regierung, aber sie hat keine Macht, sie hat keine Befugnisse.»
Die missliche Wirtschaftslage im Land, die Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit, die Korruption und die katastrophale Sicherheitslage – die Eliten in Kabul haben tatsächlich während all der Jahre lieber versucht, ihre eigene Macht und ihre Einkommen zu erhöhen, als die Lebenslage möglichst breiter Kreise von Afghaninnen und Afghanen zu verbessern.
Dass die Amerikaner zugelassen haben, dass Wahlen gefälscht und Gelder abgezweigt wurden, war vermutlich die grösste Sünde der Invasoren. «Der Fehler der Amerikaner war, dass sie überhaupt gekommen sind.» Sayyed Akbar Agha wiegt seinen schweren Kopf. «Aber jetzt, da sie gehen, sind alle Afghanen froh. Die Amerikaner sind geschlagen, genauso wie damals die Russen geschlagen waren.»
Nur: Wie diese Vergangenheit überwunden und eine Zukunft gefunden werden könnte, weiss auch der ehemalige Taliban-Kommandant nicht: «Das afghanische Volk muss als unabhängige, dritte Kraft einschreiten und die Taliban und die Regierung zu einem Frieden zwingen. Ein solcher Weg ist die einzige Lösung, eine andere Lösung sehe ich nicht.» Wie ein solcher Friede erreicht werden könne, sagt Akbar Agha nicht.