Die Handybilder sind verwackelt. Doch die Figuren, die sich weit entfernt im unwegsamen Geröll bewegen, sind deutlich erkennbar. «Der IS versteckt sich vor allem in den Karaschogh-Bergen, zwischen Erbil und Kirkuk. Sie sind auf beiden Seiten des Gebirges. Tagsüber verstecken sie sich, in der Nacht kommen sie hervor.»
Saeed Hazhar ist Brigadegeneral der Peschmerga, der Armee der Kurden im Irak. Die Bilder stammen von Bewohnern der Dörfer rund um das Karaschogh-Gebirge.
In 27 Dörfern seien die IS-Kämpfer gesichtet worden, berichtet der kurdische Fernsehsender Rudaw. Der Brigadegeneral bestätigt das. «Die Leute des IS gehen offen herum und verlangen von den Dorfbewohnern Steuern. Falls diese nicht zahlen, zünden sie ihre Felder an.»
Der IS ist alles andere als besiegt. Es gibt viele Schläferzellen.
Es ist die Rache des IS. Rund 1000 Quadratkilometer Ackerland sind im Irak alleine im Mai verbrannt. Für die Mehrzahl der Feuer soll der IS verantwortlich sein. «Der IS ist alles andere als besiegt. Es gibt viele Schläferzellen. Die warten nur auf den richtigen Moment, um wieder aus ihren Verstecken hervorzukriechen.»
Profiteure im Niemandsland
Dort, wo Kurden und die Zentralregierung in Bagdad um die Herrschaft streiten, bewegt sich der IS schon wieder fast so offen wie vor 2014. Vor allem rund um die Stadt Kirkuk hat der Streit zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der Kurdenregierung in Erbil zu einem Machtvakuum geführt, das der IS gerne ausnutzt.
«Der IS wird nur zu besiegen sein, wenn sich all die politischen Führer im Irak endlich zusammenraufen und wirklich für den Irak und die Iraker arbeiten. Nur wenn jeder für das Wohl des Landes kämpft und aufhört, für sein eigenes Wohl zu kämpfen, kann der IS wirklich besiegt werden.» Aber da hat Saeed Hazhar, der kurdische Brigadegeneral, wenig Hoffnung.
Dass der IS oder eine wie auch immer genannte Nachfolge-Organisation wieder gefährlich werden kann, weiss auch der irakische Gegenpart von Brigadegeneral Hazhar.
Generalmajor Najim Abed al-Jabouri sitzt in einem grossen Büro in einem Nebengebäude des früheren Palastes von Saddam Hussein in Mossul. Die Toilette nebenan ist vergoldet. Sie stand schon hier, als wir vor zwei Jahren in diesem Raum sassen. Damals hatten die Truppen von al-Jabouri gerade Mossul vom IS befreit.
Keine Arbeit, kein Einkommen. Das öffnet exakt jene Kluft, durch die der IS zurückkehren kann.
Und der Generalmajor weiss nur zu gut, dass genau diese Toilette sinnbildlich ist für die Probleme im Irak. «In Mossul gibt es unzählige Familien – unzählige Familien! – ohne Hoffnung auf ein besseres Leben. Familien ohne Arbeit, ohne Einkommen. Das ist langfristig äusserst gefährlich. Denn das öffnet exakt jene Kluft, durch die ein IS oder jede andere schlechtgesinnte Organisation zurückkehren kann.»
Brücken bauen in Mossul
Der Generalmajor war seit dem Beginn der Offensive gegen den IS Oberkommandierender der gesamten sogenannten «Ninive-Operation» der irakischen Armee, der Operation zur Rückeroberung der Provinz Ninive und Mossuls vom IS.
Jetzt bereitet er sich auf seinen Abschied vor, es sind seine letzten Tage als Kommandant. «Wir wissen sehr genau: Einer der Gründe, weshalb der IS 2014 Mossul so leicht erobern konnte, war die schlechte Beziehung zwischen der Bevölkerung und den Sicherheitskräften. Ich habe sehr hart dafür gearbeitet, dies zu ändern.» Zum Beweis nimmt uns al-Jabouri mit in die Stadt.
Demonstrativ verzichtet er auf das gepanzerte Fahrzeug und setzt sich in einen ungeschützten Geländewagen. Die schwerbewaffneten Begleittruppen schickt er in den Hintergrund. «Ob es irgendwo sicher ist, das hängt nicht von den Sicherheitskräften ab. Das hängt von der Bevölkerung ab.» Diese begrüsst den Generalmajor ausnahmslos freundlich, als er durch den Markt schlendert.
Ein Junge stürzt heran. «Der IS hat meinen Vater entführt!» «Wo war das?» «In Wahda, General.» «Wie viele Geschwister hast Du?» «Vier.» «Wer hilft Dir?» «Mein Onkel.» «Arbeitest Du bei ihm?» «Ja, er ist Schmid.» Der Generalmajor weiss, dass er nicht helfen kann. Aber er versucht der Bevölkerung wenigstens das Gefühl zu vermitteln, dass er sich kümmert.
«Ich diskutiere dies andauernd, mit der Regierung in Bagdad, mit den lokalen Behörden: Wir müssen das Leben der Menschen hier verbessern. Aber bis heute haben wir nicht genügend grosse Schritte in diese Richtung gesehen.»
Die Gefahr in den Lagern
Die noch grössere Gefahr aber liegt für al-Jabhouri in den Lagern. «Wir haben immer noch viele IS-Familien in den Lagern. Deren Leben müssen wir ändern. Denn dort werden gerade die neuen irakischen Taliban geboren!» Diese Situation sei nebst der darbenden Wirtschaft die grösste Gefahr für die Zukunft.
In den Lagern werden gerade die neuen irakischen Taliban geboren.
«In den Lagern leben Kinder. Diese werden ihre Mütter fragen: Wer hat meinen Vater getötet? Und die Mütter werden antworten: Die Ungläubigen haben deinen Vater getötet. Und die Kinder werden dieselbe Frage in der Schule stellen, falls sie denn so etwas wie Schule haben in den Lagern, und die Lehrer werden die gleiche Antwort geben wie die Mütter. Das ist sehr gefährlich. Deshalb müssen wir dieses gesamte Umfeld komplett verändern.»
Der Irak, das macht al-Jabouri deutlich, ist mit dieser Aufgabe allein überfordert.