Die westliche Welt hat Angst, dass Iran zur Atommacht im Nahen Osten werden könnte. Vor allem die USA versuchen mit grosser Anstrengung, Teheran vom Bau einer Atombombe abzubringen. Doch der Iran selbst hat ganz andere Probleme, sagt der Experte Ali Fathollah-Nejad. Er stecke in drei Krisen gleichzeitig.
SRF News: Geht es der iranischen Wirtschaft aufgrund der Sanktionen so schlecht?
Ali Fathollah-Nejad: Sicherlich haben diese Sanktionen der Amerikaner die iranische Wirtschaft in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark beeinträchtigt. Es gibt aber sehr viele iranische Ökonomen, die das Gegenteil sagen. Ich glaube auch, dass die wirtschaftliche Krise in der Islamischen Republik in erster Linie einheimisch ist. Es gibt eine politische Ökonomie, die sowohl die wirtschaftliche Elite als auch die politische Macht monopolisiert. Dazu kommt die ideologische Grundierung dieser politischen Ökonomie des Landes. Das bedeutet, jene, die regimefreundlich sind, haben ganz andere Möglichkeiten der sozialen Mobilität und des Zugangs zu Ressourcen.
Wie gross ist die Not bei der Bevölkerung vor Ort?
Die Not ist sehr gross. Ich spreche seit einigen Jahren davon, dass die Islamische Republik eine dreifache Krise hat, eine sozio-ökonomische Krise, eine ökologische Krise und eine politische Krise. Jede dieser Krisen ist dazu fähig, ein existenzielles Problem für das Regime darzustellen.
Das Regime und alle Fraktionen innerhalb des Establishments leiden an einem sehr virulenten Legitimationsdefizit.
Das Gravitationszentrum innerhalb dieser Dreifachkrise ist eindeutig die politische Krise. Denn das Regime und alle Fraktionen innerhalb des Establishments leiden an einem sehr virulenten Legitimationsdefizit. All diese Baustellen haben in den vergangenen Jahren immer wieder zu Protesten geführt. Wir haben jeden Tag in Iran Proteste von unterschiedlichen Gruppierungen. Es sind Lehrer, Pensionäre, Studenten, Frauen. Diese Proteste werden schlagartig politisch, weil die Menschen wissen, dass die Hauptverantwortung für die Misere des Landes bei den Verantwortlichen vor Ort liegt.
Seit knapp einem Jahr hat der Iran einen neuen Präsidenten, Ibrahim Raisi. Wie gross ist seine Macht, da das Land vom geistlichen Führer, durch Ayatollah Chamenei geführt wird?
Ja, der Präsident spielt innerhalb des politischen Systems in Iran nicht die vordergründige Rolle. Diese spielt der sogenannte oberste Führer, der sowohl ein geistliches als auch ein politisches Oberhaupt ist, und das ist Ali Chamenei.
Was wir seit zwei Jahren im Iran sehen, ist eine Monopolisierung der wichtigsten Schalthebel der Macht durch die Hardliner.
Das, was wir seit zwei Jahren im Iran sehen, ist eine Monopolisierung der wichtigsten Schalthebel der Macht durch die Hardliner. Dadurch ergibt sich auch ein politisches Risiko, denn wenn die Menschen merken, dass trotz dieser Monopolisierung und trotz des immensen Zugangs dieser Elite zum Reichtum des Landes die Menschen nicht davon profitieren, dann kann sich der Zorn der Menschen umkehren.
Sie beschreiben ein gespaltenes Land, gespalten zwischen einer Elite und einer Bevölkerung, die immer stärker protestiert. Wie können diese beiden Gruppen zueinanderfinden?
In Anbetracht der Entwicklungen der letzten Jahre gehe ich davon aus, dass diese Spaltung zwischen der Gesellschaftsebene und der Staatsebene nicht wirklich zu reparieren ist. Ein Hauptproblem liegt darin, dass das gesamte politische System der Islamischen Republik Iran nicht reformierbar ist. Aufgrund dieser Nicht-Reformierbarkeit gibt es kaum Möglichkeiten der Veränderung im Inneren. Es gibt keinen Rechtsstaat und es gibt eine massive Unterdrückung der Zivilgesellschaften.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.