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Am Beispiel Cherson Wie Russland eroberte ukrainische Gebiete russifiziert

Was heisst es, unter der Besatzung der russischen Truppen zu leben? Der Lokalpolitiker Juri Sobolewski weiss es genau. Er war stellvertretender Vorsitzender der Regionalverwaltung des südukrainischen Gebietes Cherson. Sobolewski versteckte sich an wechselnden Orten und arbeitete im Untergrund weiter. Doch dann wurde es zu gefährlich: seit Mitte Juni lebt er in Kiew.

Die Bücher in ukrainischer Sprache werden aus den Bibliotheken und Schulen entfernt und durch russische Werke ersetzt.
Autor: Juri Sobolewski Ehemaliger Regionalpolitiker

Alles, was mit der ukrainischen Kultur und dem ukrainischen Staat zu tun habe, werde eliminiert, sagt der 42-Jährige: «Die Bücher in ukrainischer Sprache werden aus den Bibliotheken und Schulen entfernt und durch russische Werke ersetzt. Schuldirektoren werden physisch bedroht, weil sie sich weigern, im neuen Schuljahr nach russischem Lehrplan unterrichten zu lassen.»

Juri Sobolewski, vor ihm auf dem Tisch liegen blau-gelben Schleifen
Legende: Juri Sobolewski im März in Cherson, kurz nachdem russische Truppen die Stadt eingenommen haben. Sobolewskis Leute haben blau-gelben Schleifen an Personen verteilt, die an den Demonstrationen gegen die russische Besatzung teilgenommen haben. zvg

Lenin-Statuen und russische Feiertage

Was Sobolewski erzählt, bestätigen zahlreiche Berichte, nicht nur aus Cherson, sondern auch aus anderen besetzten Gebieten. Lenin-Statuen wurden aufgestellt, russische Feiertage eingeführt. Das ukrainische Banken- und Postsystem wurde lahmgelegt. Den Menschen gehe das Geld aus, es gebe kaum mehr Arbeit, sagt Sobolewski. Mittels Entführungen und Einschüchterungen versuchen die Besatzer lokale Funktionsträger zur Zusammenarbeit zu zwingen. Es herrsche Willkür, Gewalt und Rechtslosigkeit.

Ausserdem wurde der Internetverkehr auf russische Provider umgeleitet und wird nun von Russland überwacht und zensiert. Dasselbe geschah mit dem Mobilfunk. Im Fernsehen und im Radio laufen nur noch russische Propaganda und russische Musik. Die Menschen sind von den Informationen aus der Ukraine abgeschnitten.

Empfänglichkeit gegenüber russischer Propaganda

Sobolewski befürchtet, dass dies Wirkung zeigt. Besonders ältere Menschen seien empfänglich für die russische Propaganda. Die russischen Besatzer hätten etwa vom ersten Tag an behauptet, die Ukraine habe die Menschen in Cherson aufgegeben. Genau deswegen habe er ausgeharrt. Denn nur schon die Tatsache, dass Leute wie er geblieben seien, habe den Plan der Russen durchkreuzt: Nämlich das Gebiet problemlos zu schlucken.

Sie kamen und dachten, sie seien Befreier.
Autor: Juri Sobolewski Ehemaliger Regionalpolitiker

«Sie kamen und dachten, sie seien Befreier, sie würden das Gebiet vom Faschismus und der Unterdrückung der russischen Sprache befreien. Aber es zeigte sich, es war alles völlig anders.»

Ein russischer Soldat in Cherson, aufgenommen am 20. Mai 2022. Im Hintergrund die Replik einer russischen Siegesflagge
Legende: Ein russischer Soldat in Cherson, aufgenommen am 20. Mai 2022. Die Flagge im Hintergrund ist eine Replik der Siegesfahne, die den 77. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs markiert. Keystone

Ein Teil der Bevölkerung ging sogar auf die Strasse und demonstrierte gegen die Besatzer. Doch seit die Russen mit steigender Gewalt darauf reagieren, sind die Proteste abgeflaut. Viele haben aufgegeben oder sind geflohen: Rund die Hälfte der Bevölkerung ist weg.

Prorussische Mobilisierung wie auf der Krim existiert nicht

Es gibt auch Menschen, die abwarten oder mit den russischen Machthabern zusammenarbeiten. Doch eine prorussische Mobilisierung wie 2014 auf der Krim existiert nicht. Das stellt auch die Politologin Tatiana Zhurzhenko fest, die für das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin forscht: «Es gab beim Einmarsch der Russen im Februar keine prorussische Unterstützung von unten», sagt sie.

Viele glauben zwar, dass die Ukraine Cherson zurückerobern wird. Aber je länger die russische Besatzung dauert, desto schwieriger wird es sein, diese Gebiete wieder in die Ukraine zu integrieren.

Echo der Zeit, 07.07.2022, 18:00 Uhr

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