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Zeugenberichte Vergewaltigt im Krieg: Ukrainische Opfer erzählen

Russische Soldaten sollen systematisch Menschen vergewaltigen. Die ukrainische Führung nutzt die Berichte für Propaganda.

Es ist Victorias 42. Geburtstag, als die Russen sie in ihrem Haus abholen. 9. März 2022: Seit einer Woche besetzt die Armee ihr Heimatdorf Berestianka ausserhalb von Kiew. «Sie nahmen mich mit zum Haus eines Nachbarn und erschossen diesen vor meinen Augen», erzählt Victoria. «Dann brachten sie seine Ehefrau und mich in ein leer stehendes Haus. Dort vergewaltigten sie uns.»

Ilja, 21 Jahre alt, aus Kramatorsk im Donbass, erzählt: «Russische Soldaten hielten unser Auto an einem Checkpoint an. Ich musste aussteigen, sie führten mich in eine Kabine neben der Strasse.» Es ist der 10. April 2022, Ilja ist mit seiner Mutter und Schwester auf der Flucht. «Auf meinem Handy fanden sie Fotos einer pro-ukrainischen Demonstration. Sie schlugen mich und stopften mir ein Stück Stoff in den Mund», erzählt Ilja. «Als ich wieder zu mir kam, lag ich nackt auf einem Tisch und spürte höllische Schmerzen.»

Victoria und Ilja sprechen in der «Rundschau» aus, worüber viele andere schweigen. Vergewaltigungen gehören zum Krieg – das ist auch in der Ukraine so. Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen beschäftigt sich aktuell mit 124 sexuellen Verbrechen in der Ukraine. In Wirklichkeit dürfte es sehr viel mehr Opfer geben.

Erniedrigung und Demütigung

Marta Havryshko ist Historikerin und forscht zu sexueller Gewalt im Krieg. Sie ist nach der Invasion der russischen Armee selbst aus der Ukraine geflüchtet – in die Schweiz. Havryshko spricht von Vergewaltigungen als Kriegswaffe. «Sie schaden nicht nur den Opfern und den Zeuginnen, sondern bringen den gesellschaftlichen Zusammenhalt ins Wanken.»

Intime Bindungen würden zerstört, Angst geschürt. «Die russischen Soldaten signalisieren den Ukrainern, dass sie nicht fähig sind, ihre Frauen zu beschützen.» Es gehe um Erniedrigung, Degradierung.

Die ukrainische Führung prangert die sexuellen Verbrechen der russischen Armee seit geraumer Zeit öffentlichkeitswirksam an. So schmückte die zuständige Ombudsfrau Lyudmyla Denisova an einer Rede am Rande des WEF in Davos die Berichte von Vergewaltigungsopfern mit schrecklichen Details aus – für die sie keine Beweise vorlegte.

«Unsensibel gegenüber Betroffenen»

Die Schilderungen waren derart grausam, dass sich im eigenen Land Widerstand formierte. Journalistinnen und Menschenrechtler appellierten in einem offenen Brief an das ukrainische Parlament, Denisova abzusetzen. Dieses kam der Forderung nach.

«Die ukrainische Regierung nutzt die Sexualverbrechen als politisches Instrument, um die Grausamkeit der russischen Soldaten zu betonen», kritisiert auch Marta Havryshko. Die Propaganda sei unsensibel gegenüber den Betroffenen. «Umgekehrt bietet die Regierung den Opfern nur unzureichend Hilfe an.»

Ilja und Victoria hoffen auf Gerechtigkeit

Die ukrainische Strafverfolgung bemüht sich aber, Kriegsverbrechen wie Vergewaltigungen zu ahnden. Ilja und Victoria haben ihre Fälle den Behörden gemeldet. Nun laufen Verfahren.

Sie hoffen auf Gerechtigkeit. «Ich wünschte, das wäre alles bald vorbei», sagt Victoria. «Und ich wünschte, ich könnte das alles irgendwann vergessen.»

Rundschau, 22.6.2022, 20:05 Uhr

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