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Angriffe auf Stromversorgung «Die Ukrainer erwarten sehr schwere Wintermonate»

Die Zerstörung der Strom- und Trinkwasserversorgung in der Ukraine ist zu einem wichtigen Kriegsziel der Russen geworden. Auch, wenn viele russische Raketen abgefangen werden – jene, die durchkommen, richten grossen Schaden an. Laut dem Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, ist die Stadt derzeit zu 80 Prozent ohne Strom und Wasser. Der in Kiew lebende Journalist Denis Trubetskoy schildert die aktuelle Situation.

Denis Trubetskoy

Freier Journalist in Kiew

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Der in Sewastopol auf der Krim geborene Journalist Denis Trubetskoy arbeitet in der ukrainischen Hauptstadt Kiew für diverse deutsche und russischsprachige Medien. Er berichtet für diese über Politik und Sport.

SRF News: Wie erleben Sie die aktuelle Situation in Kiew?

Denis Trubetskoy: Auch ich habe die Nacht ohne Strom, Heizung und Wasser verbracht. Ab etwa sieben Uhr morgens gab es hier bei mir wieder Strom und Wasser, Heizung gibts weiterhin keine.

Was heisst das für das Leben der Menschen in Kiew?

Viele haben geahnt, dass es dazu kommen könnte – spätestens seit Beginn der gezielten russischen Angriffe auf die ukrainische Energie-Infrastruktur Anfang Oktober.

Das ganze Leben ist eine grosse Improvisation.

Das ganze Leben wird jetzt eine einzige, grosse Improvisation: So ist das Bezahlen mit Karten ein sehr grosses Problem – wenn es kein Internet gibt, funktionieren auch die Kartenterminals nicht. Die Stadt ist ausserdem sehr laut geworden, weil jetzt viele private Generatoren zur Stromerzeugung laufen.

Feuerwehrmann löscht einen zerbombten Wohnblock.
Legende: Die Raketenangriffe der Russen zielen vor allem auf die Strominfrastruktur. Doch immer wieder werden auch Wohnhäuser getroffen, wie hier am 23. November. Keystone/Oleg Petryasuk

Präsident Wolodimir Selenski kündigte gestern an, dass landesweit tausende Wärmestuben eingerichtet werden sollen. Spürt man davon schon etwas?

Diese Stuben werden als «Orte der Unbesiegbarkeit» bezeichnet. Mir ist das etwas zu pathetisch, aber es ist eine ernste Angelegenheit. Tatsächlich gibt es landesweit schon über 4000 solche Einrichtungen, meist sind sie in Verwaltungs- oder Polizeigebäuden platziert.

Die Regierung plant mit einem Szenario, dass es zu einem totalen Blackout kommen könnte.

Man findet dort Heizung, Wärme und Internet sowie Strom zum Aufladen von Handys oder Akkus. Die Regierung plant und rechnet mit einem Szenario, dass es zu einem totalen Blackout in der ganzen Ukraine kommen könnte. Deshalb ist es wichtig, sich darauf vorzubereiten.

Wie bereiten sich die Menschen in der Ukraine auf den Kriegswinter vor?

Vor Beginn der Bombardierungen der Energieversorgung durch die Russen am 10. Oktober hatten viele gedacht, dass man womöglich ganz gut über den Winter kommen werde. Doch seither sind die Verkäufe von Holz, Kerzen oder Generatoren um das Zehnfache angestiegen.

Es gibt keine Anzeichen, dass der Widerstandswille schwächer würde.

Manche denken wohl auch darüber nach, den Winter über in ein Dorf zu ziehen, weil sie dort immerhin mit Holz heizen können. Und manche Frauen überlegen sich, die Ukraine während des Winters zu verlassen. Viele Ukrainer erwarten sehr schwere Monate, die da kommen – und alle bereiten sich auf ihre eigene Weise darauf vor.

Militärisch machen die Ukrainer Boden gut, doch das Land leidet immer stärker unter der Zerstörung der Infrastruktur durch die Russen. Lassen sich die Ukrainer davon zermürben?

Jede Rakete, jeder Angriff auf die Infrastruktur bewirkt genau das Gegenteil. Die Menschen schliessen irgendwelche Friedensverhandlungen mit den Russen inzwischen komplett aus. Allen ist klar geworden, mit wem man es in Moskau zu tun hat. Die Ukrainerinnen und Ukrainer lassen sich nicht unterkriegen. Auch, wenn man die Stimmung nicht als gut bezeichnen kann: Es gibt keine Anzeichen, dass der Widerstandswille schwächer würde.

Das Gespräch führte Daniel Hofer.

Rendez-vous, 24.11.2022, 12:30 Uhr ; 

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