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Krieg gegen die Ukraine Russische Besatzer machten Cherson zur Hölle auf Erden

Russlands Armee hat während der Besetzung von Cherson Zivilisten gefoltert. Eine Betroffene erzählt SRF ihre Geschichte.

Der Mann von Oksana Minenko starb noch am ersten Tag des Angriffskrieges der russischen Armee gegen die Ukraine. Der 36-jährige Alexei diente in der ukrainischen Nationalgarde. «Als mein Mann starb, war er für die Russen ein Nazi und ich die Frau eines Nazis», ist Oksana überzeugt.

Oksana hat nach ihrem Mann gesucht, als noch heftige Kämpfe rund um die Antoniwkabrücke tobten: «Der Verstand eines gesunden Menschen kann sich nicht vorstellen, was sich dort abspielte. Ich habe Stücke von Menschen herumliegen sehen. Eingeweide von Zivilisten.» Der Leichnam ihres Mannes wird später von Artilleriesoldaten gefunden. «Als ich zur Identifikation in die Leichenhalle fuhr, fehlte seine rechte Körperhälfte.»

Beerdigung unter Granaten

Bereits wenige Tage nach Beginn der russischen Grossoffensive wird Cherson besetzt. Für die Beerdigung von ihrem Mann brauchte Oksana das Einverständnis der russischen Besatzer. Sie weigerte sich, ihren Mann in einem Massengrab beizusetzen. Sie wollte ihn in dem für Soldaten vorgesehenen Teil des Friedhofes beisetzen. «Die russischen Soldaten haben mir nur eine Stunde gegeben, um ihn zu beerdigen. Sollte ich es nicht schaffen, dann würden sie mich gleich an seinem Grab erschiessen.»

Während des Gesprächs versagt Oksana mehrmals die Stimme. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an die vergangenen Monate. Mit der Beerdigung ihres Mannes nahm das Grauen für die 42-jährige Buchhalterin kein Ende. Denn die russische Armee kam zweimal bei ihr vorbei und nahm sie fest.

«Wenn das zum ersten Mal passiert, verstehst du überhaupt nicht, was passiert – wenn ohne zu fragen jemand einen Sack über deinen Kopf stülpt und deine Hände fesselt.» Wohin die russischen Soldaten Oksana fuhren, weiss sie bis heute nicht.

Stunden des Grauens

Es gibt mehr als ein dutzend Orte alleine in der Region rund um Cherson, welche nachweislich durch die russischen Besatzer genutzt wurden für die Inhaftierung und Befragung von Zivilisten. Darunter auch das Untersuchungsgefängnis von Cherson. Im Keller des Gefängnisses sollen Zivilisten gefoltert worden sein. Ob Oksana an diesem oder einem anderen Ort war, lässt sich nicht überprüfen.

Die unmenschliche Behandlung vor Ort wird Oksana ihr Leben lang nicht vergessen können: «Als man mich an diesen Ort brachte, wurden in dem Raum das Fenster geöffnet und man hat mir befohlen, mich bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Ich habe vor Angst gezittert.» In den darauffolgenden Stunden wird sie von Männern in Masken geschlagen. «In diesem Moment ist man voller Adrenalin und du spürst die Schläge nicht in ihrer vollen Wucht», schildert Oksana.

«Ich habe zu Gott gebetet, dass er verhindern möge, dass ich vergewaltigt werde.» So weit kommt es nicht. Oksana wird nach ein paar Stunden freigelassen. Die Russen fahren die Ukrainerin bis vor ihr Wohnhaus und warten anschliessend, um zu sehen, ob jemand von den Nachbarn Oksana zu Hilfe kommt. Doch niemand riskiert es, der Verletzten vor den Augen der russischen Armee zu helfen. Warum die Russen sie als Zivilistin überhaupt festnahmen, kann sie sich bis heute nicht erklären.

Operation ohne Narkose

Durch die Schläge bildet sich später in ihrem rechten Auge Eiter, und sie muss notfallmässig operiert werden – zu einem Zeitpunkt, als es in Cherson bereits kein Betäubungsmittel mehr gibt. Um ihre psychischen Verletzungen hat sich Oksana bis Ende November nicht kümmern können.

Der Krieg dominiert auch wenige Tage nach Abzug der russischen Truppen noch immer ihr Leben. So sitzt Oksana, wie die meisten Bewohnerinnen und Bewohner von Cherson, in einer dunklen Wohnung ohne fliessendes Wasser und ohne Strom. Denn die russische Armee hat vor dem Rückzug gezielt die Wasser- und Strominfrastruktur der Stadt zerstört. Die Befreiung von Cherson ist für Oksana auch der Sieg ihres Mannes. Ein Sieg zu einem unvorstellbar hohen Preis.

Mehrere mit Wasser gefüllte Flaschen stehen nebeneinander auf einem Tisch.
Legende: Weil die Wasser- und Stromversorgung in Cherson zerstört ist, hat sich Oksana einen Wasservorrat angelegt. SRF

10vor10, 21.11.2022, 21:50 Uhr

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