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Angriffskrieg Russlands Isjum: Befreiung aus den Fängen des Todes

Nach über 160 Tagen unter russischer Besatzung erwachen die Menschen in Isjum erst langsam aus der Schockstarre.

Auf den Strassen von Isjum sind in diesen Tagen mehr ukrainische Soldaten, als ukrainische Zivilisten zu sehen. Fünfeinhalb Monate unter russischer Besatzung haben ihre Spuren hinterlassen. «Mein Mann und ich getrauen uns immer noch kaum aus dem Haus. Denn einmal als wir rausgingen, da sahen wir so viele Tote auf der Strasse, durch Schüsse und Minen getötet», erzählt uns eine Einwohnerin von Isjum.

Mein Mann und ich getrauen uns immer noch kaum aus dem Haus. Denn einmal als wir rausgingen, da sahen wir so viele Tote auf der Strasse.
Autor: Einwohnerin von Isjum

Sie lebt in jenem Teil der Stadt, welcher am stärksten unter Beschuss geriet. Mit ihrem Mann betreibt sie eine kleine Autowerkstatt. Ihr Haus und ihre Werkstatt sind wie durch ein Wunder fast vollständig unversehrt geblieben.

45 Bewohner eines Hauses auf einen Schlag tot

Ein ehemaliger Mitarbeiter, der nur unweit vom Ehepaar entfernt wohnte, hat auf einen Schlag sieben Familienangehörige bei einem Luftangriff der russischen Armee verloren: «Meine Frau, Kinder und Enkel – alle sind tot. Stellen Sie sich vor: Es war Winter, es war kalt und es lag Schnee. Ich ging jeden Tag zum Haus und war dabei, bis jedes Familienmitglied aus dem Keller geborgen wurde.»

UN-Report zu russischen Kriegsverbrechen

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Eine UN-Untersuchungskommission hat eigenen Angaben zufolge verschiedene russische Kriegsverbrechen in der Ukraine festgestellt.

Die Experten haben unter anderem sexuelle und geschlechtsbezogene Gewalttaten mancher russischer Soldaten dokumentiert, wie der Kommissionsvorsitzende Erik Møse am Freitag in einem ersten mündlichen Zwischenbericht erklärte. Die Opfer dieser Verbrechen seien zwischen 4 und 82 Jahre alt, sagte er im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf.

Die Untersuchung der Menschenrechtsexperten konzentrierte sich vorerst auf die Anfangsphase der Invasion im Februar und März und auf die Regionen Kiew, Tschernihiw, Charkiw und Sumy. Bei Besuchen an diesen Kriegsschauplätzen fiel der Kommission eine hohe Zahl an Exekutionen auf. Opfer seien oft vor ihrem Tod festgenommen und gefesselt worden. Tote wiesen Schusswunden in den Köpfen und aufgeschlitzte Kehlen auf. Derzeit liefen Untersuchungen in 16 Orten, hiess es weiter in dem Bericht, der keine Opferzahl nannte.

«Zeugen haben übereinstimmend über Folter und Misshandlungen während rechtswidriger Gefangenschaft berichtet», berichtete Møse. Manche Opfer sagten demnach aus, dass sie nach Russland gebracht und dort wochenlang festgehalten wurden. Zu den Foltermethoden gehörten Schläge und Elektroschocks. Die Kommission dokumentierte auch zwei Fälle, in denen russische Soldaten von ukrainischen Einheiten misshandelt wurden.

«Aufgrund der gesammelten Beweise kommt die Kommission zu dem Schluss, dass Kriegsverbrechen in der Ukraine begangen worden sind», sagte Møse. Der ehemalige Präsident des Völkermord-Tribunals für Ruanda und sein Team wollen ihren Abschlussbericht im März 2023 vorlegen.

Die Familie hatte im Keller ihres Wohnhauses Schutz vor den russischen Bomben und Raketen gesucht. 45 Bewohner des Hauses kamen ums Leben, alle wurden am Stadtrand beigesetzt.

Erschossen am Checkpoint

Insgesamt 445 Gräber haben die ukrainischen Behörden in einem kleinen Waldstück, angrenzend zum bestehenden Friedhof, gefunden. Unter den Toten sind auch mehrere Kinder, deren Alter zum aktuellen Zeitpunkt nur geschätzt werden kann. Die meisten Gräber tragen keine Namen, sondern nur Nummern.

Fortgeschrittene Verwesung

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Die Leichen werden geborgen und zur weiteren Untersuchung abtransportiert.
Legende: Die Leichen werden geborgen und zur weiteren Untersuchung abtransportiert. SRF

Bis alle vor Ort Begrabenen identifiziert werden können, wird es noch Monate dauern. Für abschliessende Aussagen zu den Todesursachen sei es noch zu früh, erklärt der zuständige Staatsanwalt: «Da sich die Leichen länger unter der Erde befunden haben und der Verwesungsprozess fortgeschritten ist, werden die Abklärung längere Zeit dauern. Für die Gerichtsmediziner ist diese Arbeit unmittelbar vor Ort schwierig.»

Der schwere Leichengeruch, der in diesen Tagen den Nadelwald durchzieht, ist schwer in Worte zu fassen.

Die wenigsten hatten zum Zeitpunkt ihres Todes einen Pass auf sich. Für einzelne Einwohner in Isjum bedeutete das Fehlen eines Ausweises gar das Todesurteil, erzählt eine Pensionärin, die gleich unmittelbar am Waldrand vor dem Massengrab lebt: «Der Bruder meiner Bekannten Ljuba war mit dem Auto unterwegs. Als die Russen ihn an einem Checkpoint kontrollierten und er sich nicht ausweisen konnte, da haben sie ihn gleich erschossen.» Wer die Besatzung überlebt hat, der lebt zurzeit ohne fliessend Wasser, Strom, Gas und Internet.

Die Anhöhe.
Legende: Um Verwandten und Freunden ein Lebenszeichen schicken zu können, nehmen die Einwohner von Isjum den Weg auf die Anhöhe der Stadt auf sich. Mit den Handys in der Hand laufen sie auf dem Hügel umher und suchen ein Signal. Auf der Anhöhe schallen die Rufe in die Mobiltelefone: «Ich bin am Leben – die Verbindung ist schlecht!» SRF

Nicht allen gelingt es, mit den Verwandten Kontakt aufzunehmen. Die Behörden suchen nach 50 Kindern von Isjum, die von ihren Eltern ins Ferienlager geschickt wurden. Eine betroffene Mutter erzählt: «Es fuhr ein erster Bus und dann ein zweiter Bus von hier los. Die Kinder erzählten danach alle, wie toll es gewesen sei. Wie viele Möglichkeiten zur Erholung es gegeben hatte. Es war bereits die dritte Fahrt.» Die Kinder wurden ins südrussische Gelendschik gefahren.

Wir Erwachsenen kommen damit noch zu Recht, aber die Psyche der Kinder macht es kaputt.
Autor: Olga Lesogornik

Ohne die Möglichkeit, in Gebiete unter Kontrolle der ukrainischen Armee zu flüchten, hofften die Eltern den Kindern mit dem Ferienlager Erholung vom Krieg zu ermöglichen: «Die Zustände hier haben uns allen zugesetzt. Wir Erwachsenen kommen damit noch zu Recht, aber die Psyche der Kinder macht es kaputt. Unser Haus brannte aus», erzählt Olga Lesogornik.

Ihre 15-jährige Tochter Walentina hätte am vergangenen Wochenende zurückkehren sollen. Ein Wiedersehen ist jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben: «Sie ist schon ein grosses Mädchen und versteht, dass sie nicht zu uns zurückkehren kann. Sie weint am Telefon und sagt, sie wolle nach Hause.» Die Eltern hoffen nun auf Unterstützung des Internationalen Roten Kreuzes.

Rundschau, 21.9.22, 20:05 Uhr

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