Haiti ist ein Armenhaus. Es gibt systematische Korruption – bei Regierung und Opposition. Das sei nichts Neues, sagt USA-Korrespondent Matthias Kündig. Dabei war das Land vor 30 Jahren noch in der Lage, sich selbst zu versorgen.
SRF News: Wird sich an der Korruption in Haiti jemals etwas ändern?
Matthias Kündig: In Haiti steigt man in die Politik ein, um sich zu bereichern. Es sind meist Leute aus der Mittelklasse, die in die Politik gehen, weil das der einzige Weg ist, auf der sozialen Leiter nach oben zu klettern und reich zu werden. Diese Politiker werden gespeist von der reichen Oberschicht. Die Korruption ist aber nicht nur in der politischen Klasse verbreitet, sondern auch im Alltag. Man kann sich alles beschaffen, wenn man das nötige Geld hat.
Gelder aus dem Petrocaribe-Fonds sind verschwunden. Worum geht es?
Petrocaribe ist ein venezolanisches Programm für karibische Länder, damit diese Treibstoff unter dem Weltmarktpreis kaufen können. Es wurde noch unter Hugo Chávez gestartet. Im Fall von Haiti ist es ein 2-Milliarden-Dollar-Darlehen, das den Benzinpreis verbilligen soll. Denn normale Haitianer können sich Treibstoff zu Weltmarktpreisen gar nicht leisten. Aber die 2 Milliarden Dollar müssen innert 25 Jahren mit Zins zurückbezahlt werden.
Wie es aussieht, ist das Geld nun weg...
Ja. Wo genau es ist, ist nicht bekannt. Aber es ist ziemlich klar, dass es wahrscheinlich in den Taschen von Politikern und Firmenchefs gelandet ist. Das Muster, wie das Geld veruntreut wurde, ist relativ typisch. Es werden Verträge zum Bau von Strassen oder Gebäuden abgeschlossen. Das Geld wird dann auch ausbezahlt – nur werden die Strassen nicht oder nie fertig gebaut, und auch von den Häusern ist zum Teil überhaupt nichts zu sehen.
Haiti hat doppelt so viele Bewohner wie vor 30 Jahren. Wie kommt das?
Das liegt am Bevölkerungswachstum. Derzeit ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter 24 Jahre alt. Die Hauptstadt Port-au-Prince ist ein gutes Beispiel: Die Stadt wurde eigentlich für etwa 30'000 Menschen gebaut. Heute leben aber drei Millionen Menschen dort. Das hat auch mit Landflucht zu tun. Die Infrastruktur hat bei dieser Entwicklung nie mithalten können. Es gibt sogar Rückschritte wegen Wirbelstürmen und dem Erdbeben von 2010.
Sind Naturkatastrophen der Grund für die heutige Wirtschaftskrise?
Sie sind nicht der einzige Grund. Ein ganz wichtiger Punkt ist die radikale Öffnung gegenüber dem Weltmarkt. Diese wurde Ende der 80er-Jahre von der internationalen Gemeinschaft forciert und von den Machthabern ausgeführt.
Heute muss alles importiert werden. Das ist fatal für Haiti.
1986, bei der Flucht vom Diktator Jean-Claude Duvalier, war Haiti noch Selbstversorger. Es wurde sogar Zucker und Reis exportiert. Heute muss das alles importiert werden. Die Landwirtschaft hat unter dieser Öffnung gelitten, was sich negativ auf die Versorgungslage auswirkt. Aber auch industriell wird kaum noch etwas hergestellt. Diese Importabhängigkeit ist fatal für Haiti. Man muss mit Devisen Produkte einkaufen. Die Kassen sind aber leer.
Wäre die Rückkehr zu einer Abschottung die Lösung?
Grundsätzlich schon. Doch wenn man für die Einfuhr von Reis wieder Zölle erheben würde, würde sich damit zwar die lokale Produktion langfristig wieder lohnen. Aber kurzfristig würden die Preise steigen. Wenn man weiss, dass heute eine Tagesration Reis für eine Familie drei Dollar kostet, das tägliche Einkommen in Haiti aber bei drei bis fünf Dollar liegt, so ist klar, dass weitere Preissteigerungen undenkbar sind. Unruhen wären programmiert.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.