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Armenien/Aserbaidschan Erpressung durch «humanitäre Hilfe» in Bergkarabach

Hungrige Menschen stehen ab morgens um vier Uhr in der Schlange für das rationierte Brot, das nur noch stückweise abgegeben wird. Ein Mann soll bereits an Unterernährung gestorben sein. So schildern Karabach-Armenierinnen und -Armenier ihre Lage gegenüber internationalen Medien.

Der blockierte Latschin-Korridor

Das ist glaubhaft, denn seit Monaten ist die einzige Strasse, die von Armenien hinauf in die bergige Enklave führt, blockiert. Internationale Appelle und auch die Aufforderung des Internationalen Gerichtshofs an die Adresse von Aserbaidschan, die Bewegungsfreiheit über diese Latschin-Strasse zu gewährleisten, waren vergeblich.

Lastwagen mit humanitärer Hilfe aus Armenien und inzwischen auch aus Frankreich stauen sich. Doch der Checkpoint, den Aserbaidschan am Latschin-Korridor errichtet hat, bleibt zu. Denn Aserbaidschan, das im letzten Krieg um Bergkarabach im Herbst 2020 Armenien besiegt hat, will erzwingen, dass die armenische Bevölkerung des Gebiets ihren Widerstand aufgibt: den Widerstand gegen die Eingliederung in den aserbaidschanischen Staat.

Das zweischneidige Hilfsangebot aus Baku

Nun bietet Baku den Hungernden eine alternative Versorgungsroute an. Diese führt von der aserbaidschanischen Stadt Aghdam nach Bergkarabach. Zur Bekräftigung schickte man diese Woche Lastwagen mit Lebensmitteln los. Doch auch diese Güter kommen nicht durch, denn Karabach-Armenier haben Hindernisse errichtet, und es gab wütende Proteste gegen diese «humanitäre Hilfe».

Denn eine Freigabe der Strasse würde heissen: Ein erster Schritt zur Integration des Gebiets in den aserbaidschanischen Staat ist getan, die Bevölkerung anerkennt, dass Bergkarabach zu Aserbaidschan gehört. Doch das will man auf keinen Fall. Man befürchtet Vertreibung, Ermordung oder zumindest schlimme Schikanen.

Nicht ganz zu Unrecht, denn aus Sicht von Baku sind die Karabach-Armenier Separatisten. Sie haben in zwei Kriegen gegen Aserbaidschan gekämpft. Dabei wurde die gesamte aserbaidschanische Bevölkerung von Bergkarabach vertrieben oder getötet.

Erst kürzlich wurde ein kranker Karabach-Armenier am aserbaidschanischen Checkpoint verschleppt. Er sei ein Kriegsverbrecher, hiess es. Ausserdem ist Aserbaidschan ein autoritäres Regime, das auch die eigene Bevölkerung nicht vor Willkür verschont.

Baku ist am längeren Hebel

Das Kräftemessen ist in vollem Gang. Der Berater des aserbaidschanischen Präsidenten sagte diese Woche: Wenn die Strasse über das aserbaidschanische Aghdam freigegeben werde, dann gehe auch die andere Route – nach Armenien – auf.

Das ist Erpressung von Hungernden, getarnt als humanitäre Aktion. Baku ist am längeren Hebel, die internationalen Gemeinschaft hält sich zurück. Die armenische Bevölkerung von Bergkarabach hat wenig Gutes zu erwarten.

Judith Huber

Osteuropa-Korrespondentin

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Vor ihrer Tätigkeit als Osteuropa-Korrespondentin war Judith Huber als Auslandredaktorin tätig. Sie war zudem jahrelang Produzentin der Sendung «Echo der Zeit» von Schweizer Radio SRF. Judith Huber ist spezialisiert auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion und ist Sonderkorrespondentin für die Ukraine.

Rendez-vous, 31.08.2023, 12:30 Uhr

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