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Attentat in Kirche «Der Terror-Angriff in Nigeria passt in kein bisheriges Muster»

Im Südwesten Nigerias haben Schwerbewaffnete am Pfingstsonntag eine katholische Kirche angegriffen und während eines Gottesdienstes bis zu 100 Menschen getötet. Wer hinter der Bluttat in Owo steckt, ist unklar. Die Journalistin Katrin Gänsler spricht von einer neuen Dimension des Terrors in Nigeria.

Katrin Gänsler

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Katrin Gänsler ist freie Journalistin in Westafrika. Sie lebt in Lagos und Cotonou (Benin). Gänsler berichtet für deutschsprachige Medien aus der Region.

SRF News: Im mehrheitlich christlichen Süden Nigerias gab es bislang kaum Terroranschläge. Wie reagieren die Menschen nun auf diesen Angriff?

Katrin Gänsler: Die Menschen stehen unter Schock, es ist eine neue Dimension des Terrors in diesem Landesteil, dem Südwesten Nigerias. Auch passt der Angriff in kein bisheriges Muster. Präsident Muhammadu Buhari und Menschenrechtsorganisationen fordern jetzt, dass die Bluttat aufgeklärt wird.

Nigeria – bevölkerungsreichstes Land Afrikas

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Viele Menschen und Autos in Lagos.
Legende: Getty Images

Im westafrikanischen Nigeria leben mehr als 210 Millionen Menschen, es ist das mit Abstand bevölkerungsreichste Land des Kontinents. Nigeria hat eine der höchsten Geburtenraten der Welt: Sie beträgt mehr als 5 Kinder pro Frau (Schweiz: 1.5). Hauptstadt des Landes ist Abuja, die grösste Stadt des Landes ist aber Lagos mit rund 22 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Der Norden Nigerias ist muslimisch geprägt, der Süden christlich-animistisch.

Seit Jahren sind vor allem im Norden des Landes muslimische Terrorbanden aktiv, die mit ihren blutigen Überfällen auf ganze Dörfer oder Entführungen von Schülerinnen immer wieder für weltweite Schlagzeilen sorgen.

Gibt es Vermutungen, wer hinter dem Anschlag steckt?

Darüber herrscht noch völlige Unklarheit. Bislang hat sich keine der Terrorgruppen im Land dazu bekannt. Allerdings dauerte es in der Vergangenheit mitunter Tage oder sogar Wochen, bis sich jemand zu Anschlägen bekannte.

Boko Haram und der «Islamische Staat» haben Schläferzellen im ganzen Land.

Klar ist: Die islamistischen Terroristen von Boko Haram oder vom «Islamischen Staat» waren bislang eher im Nordosten Nigerias aktiv, allerdings haben sie Schläferzellen im ganzen Land. Möglicherweise ist aber auch die ethnische Gruppe der Fulani für den Anschlag verantwortlich. Sie leben teilweise als Halbnomaden in ganz Westafrika und geraten angesichts der rapiden Bevölkerungszunahme immer mehr in Konflikt mit sesshaften Bauern.

Was könnte das Ziel der Angreifer sein?

Auch darüber kann bloss spekuliert werden. Möglicherweise soll durch den Terror die Region destabilisiert werden, damit sich das organisierte Verbrechen besser ausbreiten kann. Misstrauen unter den verschiedenen religiösen oder ethnischen Gruppen führt zu Instabilität, weil man sich nicht mehr aufeinander verlassen kann. Ein solcher Terrorangriff wie in Owo befördert die Spaltung des Landes also weiter.

Seit Jahren sind Terrorgruppen und Banden in Nigeria aktiv, der Staat kriegt das Problem nicht in den Griff. Wieso nicht?

Vor allem ländliche Regionen Nigerias sind schlecht geschützt. Laut den letzten verfügbaren Zahlen kommen 187 Polizisten auf 100'000 Einwohnerinnen und Einwohner – ein im internationalen Vergleich eher geringer Wert (Schweiz: zirka 212 Polizisten auf 100'000 Einwohner). In vielen Regionen Nigerias ist die Polizei überhaupt nicht präsent.

Korruption ist weit verbreitet – es gibt kein Vertrauen in die nigerianische Justiz.

Ausserdem sind Polizisten schlecht bezahlt – Korruption ist deshalb verbreitet. Auch besteht kein Vertrauen in die nigerianische Justiz. Und schliesslich darf man nicht vergessen, dass Nigeria jedes Jahr um rund 5 Millionen Menschen wächst, ohne dass die staatliche Infrastruktur dieser Entwicklung angepasst würde. Das erhöht stetig das Konfliktpotenzial im Land.

Altbekannte Politiker als Kandidaten

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Die Wahl im nächsten Jahr dürfte in Nigeria kaum politische Veränderungen bringen: Die grösste Oppositionspartei stellte einen früheren Vizepräsidenten als Kandidaten zur Präsidentenwahl auf – er stellt sich schon das sechste Mal zur Wahl. Und die Regierungspartei wird vermutlich den früheren Gouverneur von Lagos portieren, der als Pate von Lagos gilt. Damit ist jetzt schon klar, dass sich am herrschenden System nichts ändern wird.

2023 finden Wahlen statt in Nigeria, Präsident Muhammadu Buhari darf nicht noch einmal zur Wahl antreten. Inwiefern spielt in diesem Zusammenhang die aktuelle Lage im Land eine Rolle?

Politiker nutzen Gewalt vor Wahlen häufig aus: Nach einem Anschlag können sie sagen, sie würden die Wählerinnen und Wähler vor künftigen Anschlägen schützen. Generell ist Gewalt in Nigeria alltäglich geworden. So gibt es in der Hafenstadt Lagos schon seit Jahrzehnten Bürgerwehren, weil die Polizei nicht präsent ist. Ein Problem ist dabei, dass Verbrechen kaum verfolgt werden und Täter meist straflos davonkommen.

Das Gespräch führte Vera Deragisch.

SRF 4 News aktuell, 7.6.2022, 06:20 Uhr ; 

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