Nach den Zusammenstössen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften beim «Marsch der Rückkehr» hat die UNO eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle verlangt. Das «Echo der Zeit» hat über die Eskalation an der Grenze zu Israel mit Benjamin Hammer gesprochen. Er ist Korrespondent der ARD in Tel Aviv.
SRF: Israel wirft der Hamas vor, mit diesem Protestmarsch Frauen und Kinder im Gazastreifen zu gefährden. Wie glaubwürdig ist das?
Benjamin Hammer: Wir haben von der israelischen Armee eine Geschichte vermittelt bekommen, die ich persönlich für glaubwürdig halte. Demnach ist ein siebenjähriges palästinensisches Mädchen gezwungen worden, den Grenzzaun zu Israel unter grosser Lebensgefahr zu passieren.
Die israelischen Soldaten haben erkannt, dass es sich um ein Kind handelt und haben es zurück auf die andere Seite des Zaunes geleitet. Dort traf es dann wieder seine Eltern. Das ist ein Beispiel, aber aus der Vergangenheit wissen wir, dass die Hamas durchaus vor solchen Methoden nicht zurückschreckt, auch wissend um die mediale Aufmerksamkeit.
Wie kam es dann zu der Eskalation nach dem Vorfall mit dem Mädchen am Grenzzaun?
Es war ein bisschen eine «Eskalation mit Ansage». Israel wusste von dem Protest langfristig und hatte immer wieder erklärt, dass jeder, der sich dem Grenzzaun nähert, in Lebensgefahr gerät. Ein grosser Teil der Aktivisten demonstrierte friedlich relativ weit weg vom Grenzzaun. Aber einige hundert Palästinenser, vor allem junge Männer, gingen dann sehr nahe an den Zaun heran.
Dort schleuderten sie Steine und rollten brennende Autoreifen in Richtung der Grenzsoldaten. Dann folgte die Reaktion der israelischen Armee mit dem Einsatz von Tränengas, Gummigeschossen aber auch von scharfer Munition. Diese Gewalteskalation kennen wir, das Ausmass daraus ist aber im Vergleich zu den vergangenen Monaten beispiellos.
Wie begründet Israel den Einsatz von scharfer Munition?
Es wird gesagt, dass es um eine Gefahr geht und der Grenzzaun gesichert werden muss. Das seien Terroristen, die einen Angriff planten und Israel habe ein Recht auf Selbstverteidigung. Es geht aber beim Einsatz von scharfer Munition auch noch um etwas anderes:
Es ist ein Horrorszenario für die Israeli, dass tausende Palästinenser auf diesen Grenzzaun zugehen und ihn überwinden könnten.
Diese Grenze ist im wahrsten Sinne des Wortes eine «rote Linie». Es ist ein Horrorszenario für die Israeli, dass tausende auf diesen Grenzzaun zugehen und ihn überwinden. Dazu muss man wissen, allzu hoch und allzu stabil ist dieser Grenzzaun nicht. Und weil das so ein Horrorszenario ist, gilt die Devise der Armee: Abschreckung. Das erklärt womöglich die sehr harte Reaktion der israelischen Armee mit scharfer Munition.
Dieser Protest der Palästinenser soll bis zum 14. Mai gehen, dem 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels. Erwartet die Region eine neue Eskalation?
Das könnte leider so kommen. Die israelische Armee hat erklärt, dass man damit rechne, dass das Ausmass dieser Proteste weitergeht. Heute Samstag ist ein Tag der Trauer, den die Palästinenser ausgerufen haben, um die Verstorbenen zu beerdigen. Aber die Stimmung ist sehr angespannt und es gibt die Befürchtung, dass sich die Proteste und die Eskalation auf das Westjordanland und Ost-Jerusalem ausweiten könnten.
Wegen dem 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels ist das Thema extrem aufgeladen. Für die Palästinenser gilt dieser Tag als «Nakba», als Katastrophe. Und sie fordern eine Rückkehr in das heutige Israel, in das Land ihrer Vorfahren. Bei dem Gründungskrieg 1948 zwischen Israel und den Arabern mussten ja rund 700'000 Palästinenser fliehen oder wurden vertrieben und deren Nachfahren leben zum grossen Teil im Gazastreifen.
Israel sagt, wir werden diesen Zaun, unsere Grenze, mit voller Härte verteidigen.
Dieser Anspruch ist aber für Israel ausgeschlossen und darum haben wir diese verhärteten Positionen: Die Palästinenser sagen, wir dürfen diesen Grenzzaun überwinden und werden das irgendwann in den kommenden Wochen für die Rückkehr auch tun. Und Israel sagt, wir werden diesen Zaun, unsere Grenze, mit voller Härte verteidigen.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.