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Aufrüstung in Osteuropa Zwischenfall an der Grenze befeuert Polens Armee-Ausbaupläne

Polen arbeitete schon vor dem Ukraine-Krieg an einer starken Armee, gab mehr für seine Verteidigung aus als die meisten anderen Nato-Mitglieder. Nun möchte das Land sogar die grösste Armee Europas aufbauen. Der Raketeneinschlag von letzter Woche gibt Befürwortern dieser Pläne erst recht Aufwind.

Wie gross soll die polnische Armee werden? 300'000 Angehörige soll die Armee haben, Polen hätte damit – Stand heute – die grösste Armee der Europäischen Union. Ein Teil wären Laienverbände, die sogenannte Territorialverteidigung – da melden sich sehr viele Leute, seit der Krieg in der Ukraine begonnen hat. Der grösste Teil aber wären Berufssoldaten. Die Armee macht gerade in vielen Städten Polens Werbung. Das ist auch nötig, denn im Moment hat die Armee erst 115'000 Angehörige.

Ist dieses Ziel realistisch? Es ist auf jeden Fall schwer zu erreichen: Im Moment hören viele Berufssoldaten sogar auf. Der Dienst an der Grenze im Osten ist streng und viele wollen die hohen Abfindungen für Ex-Soldaten – bei der hohen Inflation, die gerade Polen quält, brauchen sie das Geld. Es wird also schwierig, auf 300'000 Armeeangehörige zu kommen.

Und was will die polnische Armee an Material einkaufen? Der Einkaufszettel der Armee ist sehr lang: Kampfjets, Panzer, Flugabwehrsysteme, Schiffe, Helikopter, Flugzeuge und Software gegen Cyberkrieg. Interessant ist der Preis. Bis in etwa zehn Jahren will Polen 150 Milliarden Franken ausgeben, mehr als ein ganzes Jahresbudget der polnischen Regierung. Und es ist deutlich mehr, als Mitglieder des Verteidigungsbündnisses Nato ausgeben müssten.

Kann sich das Polen leisten? Das ist zumindest im Moment fraglich. Grundsätzlich zwar schon, denn Polen ist kein armes Land mehr. Aber im Moment ist die Inflation mit etwa 17 Prozent ausgesprochen hoch und die EU hat viel Geld blockiert, das Polen zustehen würde. Die EU hält diese Gelder zurück, weil sie will, dass die Gerichte im Land wieder unabhängiger werden. Solange dieses Geld nicht kommt, muss die polnische Regierung einspringen und damit die vielen Sozialleistungen finanzieren, die sie eingeführt hat. Diese zugunsten der Armee zu streichen wäre keine Option vor den Wahlen nächstes Jahr.

Sollte Russland Polen angreifen, könnte das Land als Nato-Mitglied auf die Unterstützung der Nato zählen. Warum will Polen trotzdem selbst so viel stärker werden? Weil Polen nie wieder das 20. Jahrhundert erleben möchte und man auch angesichts von Drohungen Putins glaubt, Russland könnte Polen durchaus angreifen. In Polen ist die Erinnerung daran lebendig, dass niemand dem Land geholfen hat, als es zuerst von Nazi-Deutschland und dann von der Sowjetunion überrannt wurde. Natürlich, kann man jetzt sagen, gibt es genau deshalb die Nato. Aber in Polen ist man überzeugt, dass man sich selber verteidigen muss. Ausserdem wäre eine so starke Armee, wie Polen sie plant, ein attraktiver Partner für die USA, die in Polen als Schutzmacht gilt.

Gibt es in Polen auch Kritik an diesen Ausbauplänen? Interessant ist, dass der Ausbau der Armee – anders als in der Schweiz – grundsätzlich von links bis rechts unbestritten ist. In diesem Punkt denken alle wichtigen polnischen Parteien aus historischen Gründen ähnlich. Im Detail, also zum Beispiel zur Frage, was genau eingekauft werden soll, gibt es aber durchaus Kritik. Militärfachleute sagen, die polnische Armee kaufe wahl- und planlos ein. Polen werde vieles am Schluss gar nicht einsetzen können.

Rendez-vous, 16.11.22, 12:30 Uhr

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