Nach der gescheiterten Wahl von Nikol Paschinjan hat die Opposition in Armenien heute einen Generalstreik ausgerufen. Laut Medienberichten sind Hauptstrassen gesperrt, die U-Bahn in der Hauptstadt Eriwan fährt nicht, und auch das Personal am Flughafen soll sich dem Streik angeschlossen haben.
Wie es in Armenien darüber hinaus weitergeht ist offen: Einigkeit herrsche einzig darüber, dass die seit Wochen von Zehntausenden Demonstranten geforderten politischen Veränderungen ohne Gewalt erfolgen sollen, sagt die Journalistin Silvia Stöber in Eriwan.
SRF News: Am Dienstag demonstrierten mehrere zehntausend Unterstützer von Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan in Armeniens Hauptstadt Eriwan. Wie reagierten sie darauf, dass er am Ende doch nicht zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde?
Silvia Stöber: Im ersten Moment spürte man eine starke Enttäuschung und auch Wut. Aber das änderte sich ziemlich rasch. Die Tausenden Menschen auf dem Platz der Republik blieben dort stehen und Oppositionsführer Paschinjan kam zu ihnen. In seiner Rede betonte er erneut, wie wichtig es sei, gewaltlos vorzugehen. Er rief zu einem Generalstreik für heute Mittwoch auf. Das leitete die Energie der Demonstranten um, man spürte eine gewisse Entschlossenheit und Siegesgewissheit – trotz der Wahlniederlage. Die Stimmung am Abend war, als ob Armenien Fussball-Weltmeister geworden wäre. Es war sehr laut, Autos hupten. Man merkte, dass die Leute sehr entschlossen sind und mit ihren Protesten weitermachen wollen.
Paschinjan hatte im Falle seiner Nichtwahl vor einem «politischen Tsunami» gewarnt. Zeichnet sich jetzt ein solcher ab?
In den letzten Wochen sind seinen Aufrufen immer mehr Leute gefolgt – deshalb kann man davon ausgehen, dass der Generalstreik heute tatsächlich umgesetzt wird. Es dürften viele Strassen und Schienen blockiert werden. Wie es danach weitergeht, wird sich zeigen. Es scheint allerdings klar, dass sich in der Politik etwas grundsätzlich ändern muss. In welcher Form, ist allerdings nicht abzusehen. Das werden die nächsten Tage zeigen.
Die bisher regierende republikanische Partei hat die gestrige Grossdemonstration ignoriert. Ist die Partei von den Menschenmassen, die Paschinjan mobilisiert, nicht beeindruckt?
Im Prinzip natürlich schon – und sie muss erkennen, dass offenbar auch Polizei und Armee nicht mehr hundertprozentig hinter ihr stehen. Zumindest nahmen einige Uniformierte an den Protesten teil. Auch deshalb kann die republikanische Partei den Protest nicht einfach ignorieren. Doch das Problem ist, dass es für die Republikaner schlicht um Alles geht. Sie möchten die Macht natürlich behalten und nur so wenig davon abgeben wie unbedingt notwendig. Dahinter stehen auch wirtschaftliche Interessen.
Für die republikanische Partei geht es schlicht um Alles.
Viele armenische Geschäftsleute sind mit den Republikanern eng verbunden – und sitzen zum Teil selber im Parlament. Zwar wurde von der Opposition versprochen, dass es keine Enteignungen geben solle und die Wirtschaftsleute im Land bleiben könnten. Doch es ist für sie sicher ein Nachteil, wenn sie ihren bisherigen politischen Einfluss aufgeben müssen.
Mit welcher Strategie will die republikanische Partei möglichst viel von ihrer Macht retten?
Eine richtig kluge Strategie ist nicht erkennbar. Die Republikaner geben bloss Schritt für Schritt nach. Bei der zweiten Wahlrunde nächste Woche wird sich zeigen, ob sie nicht doch einen eigenen Kandidaten fürs Ministerpräsidentenamt aufstellen. Letztlich geht es darum, dass die Opposition und die Republikaner auf irgendeine Art und Weise einen Kompromiss finden. Vielleicht können sie sich auf einen Kandidaten einigen, der von allen akzeptiert wird. Das dürfte allerdings nicht einfach werden, denn nur ganz wenige Politiker sind wirklich integer und nicht mit der Wirtschaft und den Oligarchen verbandelt.
Nur ganz wenige Politiker in Armenien sind wirklich integer.
Steuert Armenien also in eine Sackgasse?
Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass die Republikaner in Wahrheit gar nicht so vereint sind, wie sie sich nach aussen geben. Einer ihrer Abgeordneten ist ja bereits aus der Fraktion ausgetreten. Inwieweit das ein Zeichen ist, und ob ihm weitere folgen werden, müssen wir abwarten. Man kann aber davon ausgehen, dass die Republikaner versuchen werden, ihre Macht im Parlament zu behalten. Und falls Oppositionsführer Paschinjan doch noch neuer Ministerpräsident werden sollte, würden sie versuchen, die Wahl eines neuen Parlaments so lange wie möglich hinauszuzögern und zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Das Misstrauen der armenischen Bevölkerung gegenüber der Politik ist riesig. Was bedeutet das für die nächste Zukunft?
Alle betonen, dass es auf jeden Fall eine politische Lösung geben und auf keinen Fall Gewalt angewendet werden soll. Auch solle die politische Krise nicht zu einer institutionellen Krise führen. Alle wollen sich also an die Regeln für die Wahl eines Ministerpräsidenten und für ein neues Parlament halten. Deshalb dürfte das Ganze ein eher langwieriger Prozess werden, der allerdings durch den Druck der Strasse forciert wird.
Armenien braucht eine Politik, welche die Armut und die grassierende Korruption bekämpft.
Es braucht zunächst einen Kompromiss zwischen den politischen Lagern, der aber nur ein erster Schritt sein kann. Um das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen, müssen die Wahlgesetze geändert werden. Nur so können tatsächlich freie und faire Wahlen abgehalten werden, nur so wird ein neues Parlament tatsächlich das Volk repräsentieren. Und längerfristig braucht es in Armenien eine Politik, welche die Armut und die grassierende Korruption bekämpft.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.