Nach tagelangen Protesten auf der Strasse trat der eben erst vom armenischen Parlament wiedergewählte Regierungschef Sersch Sargsjan am Montag zurück – zuvor war er zehn Jahre lang Präsident des Landes.
Die Demonstranten fordern eine Beseitigung der strukturellen Missstände und der Korruption. Jetzt soll es überraschend bald zu Neuwahlen kommen. Doch eine rasche Verbesserung der Lebensumstände sei in Armenien kaum zu erwarten, sagt der Experte Uwe Halbach.
SRF News: Wie ist das Zugeständnis von Neuwahlen an die oppositionellen Kräfte zu verstehen?
Uwe Halbach: Das Angebot von Neuwahlen kommt in der Tat einigermassen überraschend. Man hat eher einen innenpolitischen Kampf um dieses Thema erwartet. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob sich durch die Neuwahlen das politische Gesamtbild verändern wird, und ob die Partei von Oppositionsführer Nikol Paschinjan tatsächlich stärker aus den Wahlen hervorgeht. Bislang ist sie nur mit 9 Sitzen im 105-köpfigen Parlament vertreten.
Glauben Sie, dass sich durch die Wahlen etwas verändern wird?
Ja. Die lange Herrschaft der republikanischen Partei – sie führt seit 1999 die Machtelite im Land an – ist nun doch etwas in Verruf geraten.
Seit fünf Jahren kommt es immer wieder zu Protesten.
Die Tricksereien, mit denen Präsident Sargsjan zum Regierungschef gemacht wurde, haben erhebliche politische Frustration und Empörung in der Gesellschaft geschaffen. Hinzu kommt die Frustration über die schwierigen Lebensverhältnisse und die sozialökonomischen Probleme im Land. Seit fünf Jahren kommt es deswegen immer wieder zu Protesten.
Mit Blick auf die Korruption im Land, auf die Verstrickungen zwischen Geschäftswelt und Politik, fordert die Opposition grundlegenden strukturelle Änderungen. Hat sie ein Programm, konkrete Vorschläge?
Wie in den meisten nachsowjetischen Staaten melden sich auch in Armenien oppositionelle Stimmen, doch von einer kohärenten Opposition kann keine Rede sein. Was die Leute vereint, ist die Empörung über die bestehenden Verhältnisse, insbesondere an der Verflechtung zwischen wirtschaftlicher und politischer Elite. Doch ob sich in nächster Zeit an den grundlegenden Problemen in Armenien etwas ändern wird, muss man skeptisch sehen.
Viele Beobachter vergleichen die aktuelle Situation in Armenien mit der orangen Revolution in der Ukraine. Ist das zutreffend?
Nicht ohne weiteres. Insbesondere, was die aussenpolitische Konstellation angeht, gibt es Unterschiede zur Situation in der Ukraine. Die Proteste in Armenien sind vor allem eine Reaktion auf die innenpolitischen Verhältnisse, während die Proteste auf dem Maidan in Kiew mit der Absage an den Assoziierungsprozess mit der EU zu tun hatten.
Russland hat im Fall Armenien zurückhaltend reagiert und nicht den Vorwurf erhoben, der Aufstand sei vom Westen geschürt.
Zwar gibt es auch in Armenien Kritik an einer zu engen Anbindung an Russland, doch in der jetzigen Protestwelle spielte das Thema kaum eine Rolle. Auch hat Russland im Fall Armenien zurückhaltend reagiert. Moskau hat nicht den Vorwurf erhoben, der Aufstand sei vom Westen geschürt worden.
Russland bleibt demnach auf absehbare Zeit Schutzmacht für Armenien?
Ja, die Abhängigkeit von Russland wird sich nicht so schnell beenden lassen. So sind auf einem Armeestützpunkt etwa russische Soldaten stationiert, auch die wirtschaftliche Abhängigkeit ist recht stark. Andererseits hat die Regierung unter Sargsjan Wert darauf gelegt, auch mit der EU in Kontakt zu bleiben und sich nicht einseitig in die russische Welt einzuordnen. So wurde im vergangenen Jahr ein umfassendes Partnerschaftsabkommen mit der EU ausgehandelt.
Trotz dieses Vertrags ist der Frust in der armenischen Bevölkerung gross. Was wäre zu tun, damit es den Menschen besser geht?
Die sozialökonomischen Verhältnisse müssen sich verändern, was aber nicht von heute auf morgen möglich ist. Die Armutsquote ist hoch, zehntausende Armenier verlassen jedes Jahr das Land und suchen Arbeit in Russland und anderen Ländern. Dadurch wird Armenien stark von Überweisungen aus der Diaspora abhängig. Und das wird sich nicht rasch ändern.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.