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Aus dem Fenster gestürzt Was steckt hinter den seltsamen Todesfällen von Russen?

Die Fälle von russischen Prominenten, die aus dem Fenster in den Tod gestürzt sind, häufen sich. Das jüngste Beispiel: Pawel Antow, russischer Regionalabgeordneter, ist in Indien aus dem dritten Stock eines Hotels in den Tod gestürzt. Russland-Kenner Ulrich Schmid ordnet die seltsamen Todesfälle seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs ein.

Ulrich Schmid

Professor für Osteuropastudien

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Ulrich Schmid ist seit 2007 Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Nationalismus in Osteuropa und russische Medientheorien.

SRF News: Wie viele Russen sind bereits auf seltsame Art und Weise gestorben?

Ulrich Schmid: Ungefähr 20 Oligarchen und Personen in wichtigen Positionen, vor allem in Banken und Erdölfirmen. Teilweise wurden sie mit einer Selbstmordnotiz gefunden. Die Häufung dieser Todesfälle ist sicher nicht zufällig und zeigt, wie angespannt die Situation in dieser Kriegslage ist.

Man kann davon ausgehen, dass solche auffälligen Todesfälle immer auch eine Mitteilung beinhalten.

Auffällig ist, dass im Jahr 2022 die Zahl dieser seltsamen Todesfälle zugenommen hat. Zuvor gab es Anschläge aus politischen Gründen, wie zum Beispiel die Vergiftung des übergelaufenen Geheimdienstmitarbeiters Alexander Litwinenko, der im Jahr 2006 mit der radioaktiven Substanz Polonium ermordet wurde.

Wieso ist derzeit häufig von Fensterstürzen als Todesursache zu lesen?

Es gibt tatsächlich eine Häufung von verdächtigen Fällen, in denen Manager und Oligarchen aus Fenstern gestürzt sind, wobei Suizide nicht ausgeschlossen werden können. Diese Fälle erlangen deshalb Aufmerksamkeit, weil man bei diesen erfolgreichen Managern nicht davon ausgeht, dass sie sich von heute auf morgen umbringen.

Einige seltsame Todesfälle von russischen Prominenten

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  • Pawel Antow , russischer Regionalabgeordneter, ist in Indien aus dem dritten Stock eines Hotels in den Tod gestürzt. Der 65-Jährige soll im ostindischen Bundesstaat Odisha unterwegs gewesen sein, um seinen Geburtstag zu feiern. Er soll Russlands Krieg in sozialen Netzwerken als Terror bezeichnet haben, bevor er den Post zurückzog und dem System von Putin die Treue schwor, wie Medien berichteten.
  • Im September starb Rawil Maganow , Aufsichtsratschef des Ölkonzerns Lukoil, bei einem Sturz aus dem Fenster eines Moskauer Spitals. Der Ölgigant Lukoil hatte sich im März als erstes grosses russisches Unternehmen öffentlich für ein Ende des Ukraine-Kriegs ausgesprochen.
  • Im Juli wurde Oligarch Juri Woronow tot im Pool seines Hauses gefunden. Laut Medienberichten hatte er eine Schusswunde am Kopf. Den russischen Behörden zufolge lasse sich der Tod des 61-jährigen Unternehmers auf einen «Streit mit Geschäftspartnern» zurückführen.
  • Im April war der frühere Vize-Chef der Gazprombank, Wladislaw Awajew , tot mit seiner Frau und seiner Tochter in seiner Wohnung in Moskau gefunden worden. Ermittler teilten mit, der 51-Jährige habe seine Familie und sich selbst getötet, was Bewohner des Hauses jedoch bezweifelten.

Wenn es sich tatsächlich um Morde handelt, hinterlassen Fensterstürze im Körper der Toten keine chemischen Spuren und senden gleichzeitig das gewünschte Signal nach aussen. Man kann davon ausgehen, dass solche auffälligen Todesfälle immer auch eine Mitteilung beinhalten. Man will anderen Leuten signalisieren, dass es eine rote Linie gibt und ein gewisses Verhaltensmuster eingehalten werden muss – ansonsten wird es gefährlich.

Kann man ein Muster erkennen, dass Oligarchen bei Fensterstürzen sterben und Politiker auf eine andere Art?

Das Erschiessen von Opfern und Sprengstoffattentate sind deutliche Muster, wenn es um die Eliminierung von politischen Oppositionellen geht, die dem Kreml gefährlich werden können. Vergiftung ist hauptsächlich im Geheimdienstmilieu üblich, obwohl man das im Fall Alexej Nawalny auch bei einem politischen Oppositionellen verwendet hat. Die Fensterstürze scheinen tatsächlich mehr im Oligarchenmilieu verbreitet zu sein.

Rawil Maganow mit Wladimir Putin
Legende: Im September starb der Aufsichtsratschef des Ölkonzerns Lukoil, Rawil Maganow (rechts), bei einem Sturz aus dem Fenster eines Moskauer Spitals. Sputnik/Mikhail Klimentyev/Kremlin via REUTERS

Bekommen Fensterstürze nicht dieselbe Handschrift wie Vergiftungen, wenn sie sich häufen?

Es gibt sicher auch einen Nachahmungseffekt, wenn einmal eine kritische Zahl von Menschen durch Fensterstürze ums Leben gekommen ist. Allerdings befinden sich diese Menschen nicht direkt im politischen Umfeld des Kremls und es kann durchaus auch sein, dass auch mafiöse Umtriebe dahinter stecken.

Ein Aussprechen gegen den Krieg bedeutet nicht gleich den Tod

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Die Oligarchen müssen nicht zwingend bei Putin in Ungnade fallen, damit sie umgebracht werden, erklärt Ulrich Schmid. Zwar habe sich beispielsweise Rawil Maganow zu Beginn gegen den Krieg ausgesprochen, allerdings ohne gross aktiv zu werden. «Die Frage ist, ob so eine Aussage reicht», sagt Schmid. Denn es gebe auch ähnliche Statements von anderen Oligarchen.

Seit dem 24. Februar verhalten sich die Oligarchen unauffällig. «Man kann davon ausgehen, dass kein Oligarch begeistert ist von diesem Krieg, der für sie finanzielle Einbussen und Einschränkungen der Handlungsoptionen bedeutet.» Viele Oligarchen seien zwar unglücklich über den Krieg, wissen aber, dass sie im System Putin gefangen sind. «Einige wenige haben sich so geäussert, dass es eine gute Idee wäre, den Krieg zu beenden und ihnen ist nichts passiert.» Zudem hat Putin am SOZ-Gipfel in Usbekistan selbst gegenüber Xi Jinping gesagt, dass er alles tun werde, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.

«Das heisst zumindest auf rhetorischer Ebene, dass man sich nicht auf unsicheres Gelände begibt, wenn man öffentlich sagt, dass man für ein baldiges Ende des Krieges ist», sagt Schmid. «Man kann deshalb nicht sagen, dass diejenigen Oligarchen, die sich vorsichtig gegen den Krieg ausgesprochen haben, nun Opfer von Fensterstürzen wurden.»

Denn die Oligarchen sind seit Kriegsausbruch in einer kritischen Situation. Ihre Auslandsguthaben wurden gesperrt und sie müssen ihre Geschäftsmodelle neu überdenken. Es ist sehr schwierig geworden für die Oligarchen – und in diesem Sinne ist das Feld ihrer Aktivitäten enger geworden, was den Konkurrenzdruck sicher erhöht hat.

Gibt es Hinweise, dass der Kreml hinter den Fensterstürzen stecken könnte?

Nein, es ist reine Spekulation, was sicher auch von der Täterschaft so beabsichtigt ist. Man will zwar ein gewisses Medieninteresse, aber man hat auch ein Interesse daran, dass es bei Spekulationen bleibt.

 Das Gespräch führte Saya Bausch.

Echo der Zeit, 22.12.2022, 18:00 Uhr ; 

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