Viel wird darüber berichtet, was der Krieg mit den Menschen in der Ukraine macht. Wie aber leben die Russen und Russinnen mit dem Krieg, wie stellen sie sich dazu und wie nehmen sie die Geschehnisse wahr?
David Nauer und Judith Huber von der SRF-Auslandredaktion haben in Russland vier völlig unterschiedliche Stimmen und Meinungen gesammelt, die wir hier anonymisiert wiedergeben. Sie erklären, wie sie zum russischen Angriffskrieg im Nachbarland stehen – und wie er «ihr» Russland verändert.
Alexander, 49 Jahre: «Ich spüre, dass der Schrecken da ist»
Das Leben in Moskau geht normal weiter. Der öffentliche Verkehr funktioniert, Restaurants und Nachtclubs haben offen – alles ist wie vor dem Krieg. Die Menschen leben vor sich hin und manchmal scheint es, dass ihr Bewusstsein von keinerlei Schrecken getrübt ist. Aber ich spüre, dass dieser Schrecken da ist. Und das macht es noch beängstigender.
Ich selbst denke, dass der Krieg sich ausweiten wird und auch die Nato sich einmischt, dass es zu einem globalen Krieg zwischen Autokratien und Demokratien kommt. Alles ist möglich.
«Die Verkümmerung des kollektiven Gewissens»: Das ist das, woran das russische Volk in diesen Tagen leidet. Der Krieg wird meist nur umschrieben. Die Leute sprechen von «den bekannten Umständen». Oder sie sagen: «Du verstehst schon, was ich meine». Viele denken insgeheim: «Vielleicht wäre es besser gewesen, gar nicht erst anzufangen, aber nun müssen wir bis zum Ende gehen – sonst wird es eine Schande für Russland.»
Meine Bekannten in der Kulturszene hoffen, dass Putin etwa von seinen eigenen Leuten vergiftet wird oder an einer Krankheit stirbt und wir dann zum Leben von vor dem 24. Februar zurückkehren. Ich selbst denke, dass der Krieg sich ausweiten wird und auch die Nato sich einmischt, dass es zu einem globalen Krieg zwischen Autokratien und Demokratien kommt. Alles ist möglich. Ich hoffe aber dennoch auf das Beste.
Anna, 53 Jahre: «Aus Moskau sind praktisch alle jungen Männer abgereist»
Weisst Du, der Vater einer Freundin von mir leitet ein Spital in Donezk. Dort ist es auch ganz furchtbar. Ich habe nicht gewusst, was die Menschen dort durchmachten, dass die Ukrainer dort permanent friedliche Städte bombardierten. Und was derzeit mit den einfachen Leuten geschieht – in der Ukraine, in Donezk, aber auch mit den russischen Soldaten, die aus unbegreiflichen Gründen in den Tod geschickt werden. Ich habe das Gefühl, dass ganz oben irgendwelche Abmachungen getroffen wurden. Und die einfachen Leute auf beiden Seiten müssen deswegen leiden.
Ich verurteile niemanden, absolut nicht. Es gibt schon viel zu viel Trennendes auf der Welt und das hat zu all dem geführt.
Aus Moskau sind praktisch alle jungen Männer abgereist. Die Freunde meiner Tochter sind alle weg. Auch von meinen Arbeitskollegen sind viele ins Ausland geflohen, um nicht in die Armee eingezogen zu werden.
Ich selbst suche nach Möglichkeiten, diesen Schmerz zu stillen, die Menschen um mich herum zu unterstützen und ihnen Hoffnung zu geben. Ich verurteile niemanden, absolut nicht. Es gibt schon viel zu viel Trennendes auf der Welt und das hat zu all dem geführt.
Dmitri, 59 Jahre: «Wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte»
Die Europäer leben in ihrer eigenen Propaganda-Blase und werden sich wohl nicht erklären können, warum Wladimir Putin, der neue Gebiete erobern und die UdSSR wieder errichten will, von einer Mehrheit der Russen unterstützt wird. Diese Unterstützung hat er tatsächlich. Ja, es gibt oppositionelle Stimmen. Die spielen aber eine marginale Rolle. Laute Kritik hingegen gibt es dafür, dass Putin im Krieg zu wenig entschlossen vorgeht. Oder dass er die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine nicht schon 2014 energischer verteidigt hat, nachdem die Nato-Länder in Kiew einen Putsch organisiert hatten.
Putin ist die Verkörperung all unserer Hoffnungen. Wenn er uns enttäuscht, wird seine politische Zukunft besiegelt sein.
Warum unterstützt eine Mehrheit der Russen die Militäroperation? Der Krieg hat dazu geführt, dass sich viele Hoffnungen der Menschen in Russland erfüllt haben. So haben erstens die mächtigen, korrupten Oligarchen stark an Einfluss verloren. Zweitens wendet sich das Land vom Neoliberalismus ab und lässt das Schicksal eines unterentwickelten Rohstofflieferanten hinter sich. Stattdessen wird endlich eine eigene Industrie aufgebaut und ein solides Finanzsystem.
Ausserdem rücken die Völker Russlands angesichts der potentiellen Bedrohung durch die Nato zusammen. Und schliesslich grenzt sich Russland auch kulturell von Europa ab, wegen dieses ganzen Theaters, das die Europäer mit ihrer radikalen Gender-Politik und der Abkehr von traditionellen Werten aufführen.
Aus diesen und vielen weiteren Gründen sind wir unseres Sieges sicher und wissen, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Putin ist die Verkörperung all unserer Hoffnungen. Wenn er uns enttäuscht, wird seine politische Zukunft besiegelt sein. Der Krieg hat einen mächtigen revolutionären Prozess ausgelöst.
Maria, 30 Jahre: «In Russland gibt es überhaupt keine Hoffnung mehr»
Es fühlt sich so an, als hätten hier in Russland alle Schizophrenie. Wenn ich in die Stadt gehe, dann spürt man überhaupt nicht, dass unser Land Krieg führt und zunehmend in ein totalitäres System abgleitet. Die Leute gehen zur Arbeit, alle Läden sind geöffnet, die Strassen sind mit bunten Lichtern für die Festtage geschmückt. Ich bin im Moment an einer Arbeit, die mir sehr gefällt, und ich lebe wie auf einer Insel, die nichts mit der traurigen Realität zu tun hat. Ich lese weniger Nachrichten.
Mich hat umgehauen, als Putin kürzlich sagte, man dürfe niemandem glauben – ausser ihm.
Aber manchmal bricht doch der Gedanke durch, dass wir in der schlimmsten Periode der jüngeren russischen Geschichte leben.
Mir macht Angst, dass dieses Regime sich womöglich noch lange halten kann – immerhin hatten sie 20 Jahre Zeit, sich gegen jede Opposition abzusichern. Ich habe das Gefühl, in Russland gibt es überhaupt keine Hoffnung mehr.