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Ausnahmezustand in Tripolis «Die Regierung ist in Geiselhaft der Milizen»

Eine handlungsunfähige Regierung, marodierende Milizen und Dschihadisten: Libyen-Kenner Beat Stauffer über ein Land am Abgrund.

Seit dem Sturz von Machthaber Gaddafi 2011 wird in Libyen um die Macht gekämpft. Vor einer Woche hat sich die Situation in der Hauptstadt Tripolis derart verschärft, dass die international anerkannte Regierung den Ausnahmezustand ausgerufen hat.

Fast 40 Menschen kamen bei Kämpfen unter schwerbewaffneten Milizen ums Leben, Dutzende wurden verletzt. Und inmitten dieser Gefechte konnten etwa 400 Häftlinge aus einem Gefängnis ausbrechen. Der Notstand soll die Zivilbevölkerung schützen – doch dafür sei die Regierung zu schwach, sagt Libyen-Kenner Beat Stauffer.

Beat Stauffer

freier Journalist, Buchautor

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Beat Stauffer berichtet als freischaffender Journalist für verschiedene Medien aus Nordafrika. Er ist auch als Buchautor, Kursleiter und Referent tätig.

SRF News: Was wissen Sie über die Situation in Tripolis?

Beat Stauffer: Die Situation ist so schlimm wie seit vier Jahren nicht mehr. Damals war der internationale Flughafen von Tripolis umkämpft und wurde weitgehend zerstört. Die Bevölkerung der Stadt leidet seit langem unter Kidnapping, Überfallen, schlechter Wasserversorgung und Banditentum. Jetzt aber ist die Lage eskaliert. Viele Beobachter fürchten, dass es noch schlimmer werden könnte und Tripolis in Strassenkämpfe verwickelt werden könnte.

Sind diese Kämpfe auf die Hauptstadt beschränkt oder wird auch im Rest des Landes gekämpft?

Zum jetzigen Zeitpunkt finden die Kämpfe in Tripolis und seiner Umgebung statt. Aus dem Osten hört man relativ wenig, aus dem Süden haben wir eigentlich gar keine Informationsquellen.

Alle Milizenführer haben ihre eigene Agenda und nicht das Interesse des libyschen Staates im Blickfeld. Die Regierung von Fayiz as-Sarradsch ist in Geiselhaft der Milizen.

Das ist ein Gebiet, in das man nicht mehr hingehen kann. Banden und IS-Anhänger bekämpfen sich dort oder haben sich arrangiert.

Libyen hat eine international anerkannte Regierung. Wer kämpft dort eigentlich gegen wen?

Die international anerkannte Regierung hat keine eigenen Polizeikräfte und auch keine Armee. Sie muss sich zu ihrem eigenen Schutz, und um ihre Anordnungen und Weisungen durchzusetzen, auf vier Milizen abstützen. Diese sind aber alle sehr problematisch: Zum Teil sind sie salafistisch ausgerichtet, zum Teil schlichtweg kriminell. Und alle Milizenführer haben ihre eigene Agenda und nicht das Interesse des libyschen Staates im Blickfeld. Die Regierung von Fayiz as-Sarradsch ist also in Geiselhaft der Milizen.

Die Machtkämpfe in Libyen toben seit dem Sturz von Muammar Gaddafi. Was hat die jüngste Eskalation ausgelöst?

Es geht erneut um den Flughafen von Tripolis. Nach der Zerstörung sollte er in wenigen Wochen wieder eröffnet werden. Eine Miliz aus dem Süden, der sich weitere angeschlossen haben, will den Flughafen unter ihre Kontrolle bringen. Dagegen wehren sich die vier Milizen auf dem Stadtgebiet von Tripolis.

Viele Libyer haben Angst, dass ihre Hauptstadt nun in Kämpfe hineingezogen werden und dabei sogar zerstört werden könnte.

Es handelt sich also um einen Machtkampf zwischen Milizen, ein Abstecken der Einflusssphären und ein Aufteilen der reichen Ressourcen des Landes, die immer noch sprudeln wegen der grossen Ölvorkommen.

Der Ausnahmezustand soll die Zivilbevölkerung schützen. Ist das überhaupt möglich? In Tripolis scheint ja komplette Anarchie zu herrschen?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Ausnahmezustand etwas bringt. Die Regierung hat ja gar keine eigenen Machtmittel. Sie ist angewiesen auf den Goodwill der Milizen. Vermutlich wird einzig und allein die Situation auf dem Schlachtfeld etwas bringen: Sollten die Milizen zur Vernunft kommen und ihre Einflusssphären abstecken, dann kann man eine offene Auseinandersetzung und Strassenkämpfte vielleicht vermeiden.

Vergangenen Mittwoch hatten die Konfliktparteien unter Vermittlung der UNO eine Waffenruhe vereinbart. Diese scheint aber nicht viel zu bringen.

Sie hat tatsächlich nichts gebracht und wurde auch schnell gebrochen. Auch die Aufrufe eines Ältestenrates, die Kämpfe einzustellen, wurden nicht befolgt. Die Situation ist in der Tat sehr chaotisch; viele Libyer haben Angst, dass ihre Hauptstadt nun in Kämpfe hineingezogen werden und dabei sogar zerstört werden könnte.

Libyen ist wichtigstes Durchgangsland für Flüchtlinge und Migranten Richtung Europa. Viele von ihnen stranden im Land und sitzen unter misslichen Bedingungen in Lagern fest und werden ausgebeutet. Was bedeuten die Machtkämpfe für sie?

Zum einen gibt es sicher Flüchtlinge und Migranten, die aus diesen Haftanstalten und Internierungslagern flüchten können. Es kann aber auch sein, dass sie jetzt noch schlechter betreut und versorgt werden als bisher. Wenn sie flüchten können, werden sie in die genau gleiche missliche Lage geraten, wie die gesamte libysche Bevölkerung. Das heisst, sie könnten in Kämpfe geraten, haben nicht mehr genügend Nahrungsmittel – ihre Perspektiven sind eher noch schlechter als für die Einheimischen.

Wer kontrolliert diese Flüchtlingslager?

Meines Wissens sind es Milizen im Auftrag der Regierung von as-Sarradsch. In kleineren Städten an der Küste sind es Milizen, die die Lager direkt und im eigenen Interesse führen und kontrollieren.

Das Gespräch führte Brigitte Kramer.

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