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Avato im griechischen Thrakien Multikulti-Dorf zeigt, wie friedliches Nebeneinander funktioniert

Im griechischen Dorf Avato leben Menschen verschiedener Herkunft und Religionen zusammen. Schon seit Jahrhunderten. Die Weltgeschichte hat sie an denselben Ort gebracht.

Avato im griechischen Thrakien ist ein Dorf mit 400 Einwohnern, einem Vielfachen an Hühnern, unzähligen Hunden. Es gibt zwei Kaffees – ein türkisches und ein griechisches –, zwei Schulen – eine türkische und eine griechische –, eine Moschee und eine griechisch-orthodoxe Kirche. Wenn der Hodscha über Lautsprecher betet und der Pfarrer über Lautsprecher die Liturgie spricht, klingt es gar nicht so unterschiedlich. Und dennoch ist Avato ein sehr ungewöhnliches Dorf.

Hier leben muslimische, schwarze Griechen, die Türkisch sprechen. Und das seit Jahrhunderten. In einem Land, das nach wie vor stark von der griechisch-orthodoxen Kirche geprägt ist. Und sie waren vor der lokalen, weissen, christlichen Bevölkerung in Avato.

Der Name Avato bedeutet «No-go-Area», unzugängliches Gebiet, denn ursprünglich war die Gegend sumpfig. In Tat und Wahrheit ist es aber gerade umgekehrt. Wer nach Avato kommt, hat ein Rendezvous mit der Weltgeschichte.

Rendezvous mit der Weltgeschichte

Die Geschichte dieser Griechinnen und Griechen von Avato ist im Dorf selbst kaum bekannt. Die Eltern erzählten ihren Kindern die Geschichte ihrer Herkunft nicht, und so gehe das Wissen über die Vergangenheit verloren, weiss der 48-jährige Tzengkiz Retzepoglou. Seit 38 Jahren lebt er in Deutschland und arbeitet als Pfleger, aber er kehrt immer wieder an den Ort seiner Herkunft zurück. Er will wissen, woher er kommt.

Dunkelhäutiger Mann in bunter Kleidung.
Legende: Tzengkiz Retzepoglou lebt seit Jahrzehnten in Deutschland, kehrt aber immer wieder in seine Heimat zurück, um seine Wurzeln zu ergründen. srf/Peter Voegeli

Das Schlüsselerlebnis für seinen Wissensdurst hatte er an einem Fussballspiel seiner Kinder. Ein Amerikaner sprach ihn auf Englisch an und war baff überrascht, dass ihn Retzepoglou nicht verstand, denn er hielt ihn für einen Landsmann. Noch überraschter war er, als er realisierte, dass Retzepoglou fliessend Türkisch spricht, Muslim ist und gleichzeitig seit Geburt den griechischen Pass besitzt.

Ich habe mir millionenfach die Frage gestellt: Wer bin ich?
Autor: Tzengkiz Retzepoglou

Tzengkiz Retzepoglou musste zu einer langen Erklärung ausholen. «Ich habe mir millionenfach die Frage gestellt: Wer bin ich? Und ich werde bis zu meinem letzten Atemzug forschen, um diese Frage zu beantworten», sagt er. Retzepoglou hat einen DNA-Test machen lassen, der ergab, dass er zu maximal 15 Prozent aus Kenia stammt.

Was Tzengkiz Retezpoglou herausgefunden hat: Seine Vorfahren waren entweder Sklaven des Osmanischen Reichs, die vor mehreren Hundert Jahren aus Afrika nach Thrakien gebracht worden waren, oder Soldaten, die einem lokalen osmanischen Herrscher dienten. Oder sie waren in Avato irgendwie hängengeblieben, denn durch Thrakien habe ein Zweig der Seidenstrasse geführt, die einst Europa, Afrika und China miteinander verband, sagt er.

Seit Jahrhunderten in Thrakien

Die muslimischen, schwarzen Griechen leben seit Jahrhunderten in Thrakien und haben sich lange nicht mit der christlichen, weissen Bevölkerung vermischt. Vor etwa 350 Jahren hätten 30'000 schwarze Menschen in Thrakien gelebt, erzählt Retzepoglou. Nach seinen Forschungen stammten sie aus verschiedenen Volksgruppen in Afrika, zum Beispiel auch aus dem Sudan. Sie hätten nur untereinander, wenn auch nie innerhalb derselben Volksgruppe geheiratet.

Männer an Tisch.
Legende: Hier treffen sich nicht alle Bewohner von Avato: Restaurant im griechischen Teil des Dorfes. SRF/Peter Voegeli

Erst 2008 hat sich das geändert. Damals heiratete Maria, eine christliche, weisse Griechin, einen muslimischen, schwarzen Griechen. Sie persönlich erlebe keine rassistischen Anfeindungen in ihrem Alltag, aber unterschwellige Ressentiments existierten noch immer. Vielleicht sagt sie das so, weil sie selbst nicht zu einer diskriminierten Minderheit gehören will. Vielleicht ist es auch so. «Der Alltag funktioniert, weil wir uns alle persönlich kennen», erklärt Reztepoglou. Er sei in Avato einfach Tzengkiz.

Weihnachtsbeleuchtung der Muslime

Im Grossen und Ganzen funktioniere das Zusammenleben, betont die Vizepräsidentin des lokalen Kulturvereins, Matoula Voulgaraki. An Weihnachten schmückten auch die Muslime ihre Häuser und Fenster, erwähnt sie als Beleg. Und sie ergänzt die Geschichte von Avato um eine spannende Facette: Die schwarzen Muslime hätten vor den weissen Christen in Avato gelebt.

Haus mit grüner Beleuchtung.
Legende: Die Moschee von Avato. srf/Peter Voegeli

Als das Osmanische Reich nach dem Ersten Weltkrieg unterging und die moderne Türkei geschaffen wurde, kam es zu einem blutigen Krieg zwischen Griechen und Türken. Bevölkerungsgruppen wanderten aus. Doch nicht alle schwarzen Muslime und alle türkischstämmigen Dorfbewohner verliessen Avato, während die Christen in Avato wiederum aus der heutigen Türkei nach Avato flüchteten. «Als unsere Grosseltern 1922 nach Thrakien kamen, haben uns die schwarzen Moslems gastfreundlich aufgenommen und uns Essen und Unterkunft gewährt», erzählt Matoula Voulgaraki.

Die Geschichte ist nicht vergangen

«Die Geschichte ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen», schrieb der amerikanische Schriftsteller William Faulkner aus Mississippi über die amerikanischen Südstaaten. Und wie als ungute Erinnerung an die Sklaverei in den USA liegen auch in Avato überall weisse Baumwollbüschel am Strassenrand. Auch hier wird, wie einst im amerikanischen Süden, Baumwolle angebaut.

Ich interessiere mich nicht für diese Vergangenheit.
Autor: Selina

Die untote Vergangenheit spürt man subkutan in Avato. Marias Teenager-Tochter Selina ist die Tochter des Ehepaars, das 2008 geheiratet hat. Aber sie sagt: «Ich interessiere mich nicht für diese Vergangenheit.» Denn sie will ihre Herkunft nicht zum beherrschenden Thema ihrer Identität machen.

Youn Sambri, genannt Jimmy, ist der Cousin von Tzengkiz Retzepoglou. Er trägt ein elegantes Hemd und hat blond gefärbte Haare.  Er hat eine schwierige Vergangenheit, die er nicht genau erklären will. Hie und da spüre er Rassismus. «Wir», sagt er, «gehören zur doppelten Minderheit: schwarz und muslimisch.»

Dunkelhäutiger Mann.
Legende: Youn Sambi, genannt Jimmy. SRF/Peter Voegeli

Spannungen zwischen Griechenland und Türkei

Die historischen Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei haben auch Auswirkungen in Avato. Der Mufti, das geistliche Oberhaupt der Muslime in der Region, bestimmt zwar den Hodscha der Moscheen, aber die griechischen Behörden ernennen wiederum den Mufti, was von der türkischstämmigen Minderheit in Avato und in Ankara nicht gerne gesehen wird.

Es gibt eine türkische Minderheitsschule in Avato, aber weil dort Griechisch bloss als Fremdsprache gelehrt wird, sprechen die türkischstämmigen Schülerinnen und Schüler nicht perfekt Griechisch. Und das ist für ihre berufliche Zukunft ein Nachteil.

Mehr Nebeneinander als Miteinander

Wie die Kulturen und Religionen in Avato zusammenleben, lässt sich am besten am nationalen Feiertag, dem 28. Oktober, beobachten. Die Kinder der türkischen und griechischen Schule tragen dieselben blau-weissen Schuluniformen, beide führen stolz die griechische Fahne mit sich. Kränze werden niedergelegt, Heldengedichte auf Griechisch rezitiert – wer aus dem muslimischen Dorfteil kommt, lässt sich am türkischen Akzent unschwer erkennen.

Kinder vor Kirche mit griechischer Fahne.
Legende: Griechische und moslemisch-türkische Schulkinder an der Feier des «Ochi-Tages». SRF/Peter Voegeli

Dann paradieren die Kinder zu Marschmusik an ihren Eltern vorbei, aber nicht zusammen, sondern getrennt nach Schulen. Vorne die Kinder der griechischen Schule, hinten die der türkischen. Und nach Ende der Zeremonie feiert jede Gruppe im Wesentlichen in ihrem Dorfteil.

Es ist also mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander, aber es ist ein friedliches Nebeneinander. Das ist schon viel in diesen Tagen, in denen im Nahen Osten ein blutiger Krieg der Religionen und Kulturen tobt. Und es ist nicht selbstverständlich.

Rendezvous, 12.12.2023, 12:30 Uhr;kobt

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